Die konkrete Utopie einer selbstentfaltungsbasierten Wirtschaft

Wir wünschen uns auch in der Wirtschaft eine sich selbst organisierende Ordnung "von unten" her. Ist dies heutzutage überhaupt möglich?

In hochentwickelten Gesellschaftsformen müssen arbeitsteilige Prozesse fein aufeinander abgestimmt werden. Die zentralistischen Planwirtschaften erwiesen sich jedoch als ungeeignet dafür. Aber auch die Organisierung über Kapitalflüsse geht nachdrücklich an den Interessen und Bedürfnissen der Menschen vorbei, sodass ihre Effektivität mehr und mehr in Frage gestellt werden muss.

Die französische Kommunistin Simone Weil hatte in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts in Deutschland am Fließband gearbeitet und festgestellt, dass die vorherrschende Fließbandarbeitsstruktur eine Selbstbestimmung der Arbeiter unmöglich macht. Sie fragte sich dann verzweifelt: "Ist eine Organisation der Produktion denkbar, die zwar unfähig wäre, die natürlichen Notwendigkeiten und den daraus resultierenden gesellschaftlichen Zwang abzuschaffen, es aber erlaubte, ohne die vernichtende Unterdrückung von Geist und Körper auszukommen?" (Weil 1975: 170) Sie schlug zu diesem Zwecke eine "progressive Dezentralisierung des gesellschaftlichen Lebens" (ebd.: 236) vor. Die damals vorherrschenden fließbandbasierten, tayloristisch organisierten Fabriken waren jedoch gerade das Gegenteil solch einer Dezentralisierung. Dezentralisierung wurde erst in den 70er Jahren wieder aktuell. Die sog. "Alternative Ökonomie" beseitigte Machthierarchien im Produktionsbereich, indem vor allem in Handwerksbetrieben das gemeinsame Arbeiten ohne Chef oder mit rotierenden Verantwortungsbereichen ausprobiert wurde. Ökologische Argumente verstärkten den Trend zur Dezentralisierung im landwirtschaftlichen Bereich. Ökodörfer und Kommunen entsprechen der Forderung nach Dezentralität. Leider reichte ihre Potenz nicht aus, die damit verbundenen frühen Hoffnungen auf eine Vernetzung, ein Stärkerwerden und ein Aushebeln der kapitalistischen Produktionsweise zu erreichen. Sind diese Hoffnungen damit ausgeträumt?

Fassen wir noch einmal zusammen, was eine Utopie der "Wirtschaft von unten" bedeuten würde: Es geht darum, dass die Produktion und Konsumtion ausgehend von den (produktiven und konsumtiven) Bedürfnissen der konkreten Individuen verwirklicht wird. Dabei entstehen auch die Organisations- und Arbeitsteilungsstrukturen aus diesen Bedürfnissen heraus und müssen ihnen nicht von "außen" oder von "oben" vorgegeben werden. Ein gut funktionierendes Beispiel ist die Freie-Software-Bewegung. Dies verallgemeinert hätten wir dann ein globales Netzwerk einer jeweils lokal hergestellten Produktions-Konsumtions-Infrastruktur, deren Nutzung und Ausbau jeweils auf der selbstbestimmten Selbstorganisierung der Individuen, Gruppen und regionalen Einheiten beruht.

Das Ziel besteht natürlich darin, die technischen Produktionsmittel selbst auch auf diese Weise herzustellen. Auch die Ressourcengewinnung und die Landwirtschaft werden grundlegend umgestaltet werden müssen. Ansätze dazu werden z.B. in den Global-Villages-Projekten erarbeitet (Nahrada 1995).

Die individuellen Selbstentfaltungsbedürfnisse sind die Quelle und Grundlage solch einer Wirtschaft. Dabei besteht auf jeder Ebene das berechtigte Eigeninteresse, das Netzwerk effektiv und ökologisch verträglich zu betreiben und die dazu notwendigen Schritte zu realisieren - dies muss nicht vorsorglich vorher oder von außen bzw. von oben vorgegeben werden. Wenn die Selbstentfaltungsbedürfnisse tatsächlich zur Quelle der Produktion werden, so können individuelle oder regionale Unterschiede zur gegenseitigen Bereicherung entfaltet werden und brauchen nicht mehr gegeneinander ausgespielt zu werden. Es entsteht "eine Welt mit Platz für viele Welten", weil sich für verschiedene Aufgabenstellungen auch unterschiedliche Organisationsformen entwickeln werden und keine für andere dominant werden kann.

(leicht verändert aus: Schlemm, Annette (2006): Selbstentfaltungs-Gesellschaft als konkrete Utopie. Osnabrück: Packpapierverlag. Siehe auch Internet http://www.thur.de/philo/SEG.htm) )

Siehe auch: Was ist eine "konkrete Utopie"?

 

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