Politische Utopie jenseits der Utopien

Christoph Spehr entwickelte vor einigen Jahren das Konzept der "Freien Kooperationen" als neue Utopie, die sich grundsätzlich von früheren Utopien unterscheidet. Viele der früheren Utopien waren auf eine solche Weise ausgearbeitet, dass sie selbst zu normativen Vorgaben für andere Menschen wurden und deshalb ihren freiheitlichen Charakter verloren. Christoph Spehr legt deshalb auf einige Prinzipien großen Wert:

1.
Eine politische Utopie darf nicht deskriptiv sein. Das heißt: Sie stellt keine fixen Modelle auf, wie die "gute Gesellschaft", das "richtige Leben", die "korrekte Beziehung", die "gesunde Lebensführung" etc. auszusehen hat. Sie versucht nicht, die Welt zu verbessern, sondern nur, den Menschen den Rücken zu stärken." (Spehr 2003: 56) Für die Freien Kooperationen bedeutet das:

"Die Theorie der freien Kooperation macht keine Vorschriften. Sie erkennt an, dass Individuen und Gruppen Kooperationen ablehnen, verweigern, einschränken können, wenn sie damit nicht zufrieden sind, ohne dass sie von einer objektiven Instanz daran gehindert werden könnten. Sie erkennt allerdings auch an, dass Individuen und Kollektive bestimmte Verhaltensweisen und Regelungen zur Bedingung der Kooperation machen können; sie können dies aber nicht einseitig erzwingen oder diktieren. Die konkrete Ausgestaltung von Kooperationen ist Sache der Beteiligten; von außen kann man dazu eine Meinung haben, man kann sie auch äußern, aber das war's dann auch. Die Politik der freien Kooperation beschränkt sich darauf, Voraussetzungen durchzusetzen, unter denen das Scheitern der Kooperation (oder ihre Einschränkung) für alle Beteiligten zu einem vergleichbaren und vertretbaren Preis möglich ist. Sie weiß nicht, was bei Verhandlungen unter diesen Voraussetzungen im konkreten Fall herauskommt. Sie oktroyiert niemand etwas auf. Sie sagt lediglich denjenigen, die mit ihren Kooperationen nicht zufrieden sind: "Lasst euch nicht abspeisen!" (ebd.: 55-56) 2.
Eine politische Utopie darf nicht elitär sein.
Das heißt, sie "behauptet nicht, einen privilegierten Zugang zur Wahrheit zu haben. Sie erhebt keinen Anspruch, etwas zu wissen, was nicht jeder und jedem prinzipiell aus eigener Erfahrung zugänglich ist." (ebd.: 57)
Das Konzept der Freien Kooperation "berät Individuen und Gruppen auf die Frage hin: "Wie werden wir frei und gleich?", indem sie strukturierte historische Erfahrungen in einer verstehbaren Begrifflichkeit und Systematisierung zur Verfügung stellt. Sie rät, das Recht zu verhandeln keinesfalls an irgendwelche Strukturen formalisierter Entscheidungsfindung, an irgendwelche übergeordnete Instanzen, an irgendwelche Chef- und Vordenker abzugeben. Sie rät zu Druck und realer Einschränkung von Kooperation im Konflikt und zu prinzipiellem Misstrauen gegenüber allen diskursiven Verfahren, die Individuen und Gruppen einreden, was sie wirklich wollen oder wem sie angeblich implizit zugestimmt haben.!" (ebd.: 57) 3.
Eine politische Utopie darf nicht hierarchisch sein.
Das heißt, es gibt "keine Orte in der Gesellschaft und keine Arten von Kooperation, die wichtiger wären als andere." (ebd.: 57) "Sie verfolgt ein selbstähnliches Konzept, wonach politische Utopie darin besteht, eine andere Logik sozialer Beziehungen zu propagieren und durchzusetzen, und zwar für alle Arten sozialer Beziehung. Gesellschaftliche Veränderung ist ein komplexer Prozess ohne Vorher-Nachher-Effekt (nach dem Motto: erst den Staat ändern, dann die privaten Beziehungen; erst die Eigentumsverhältnisse ändern, dann die Formen der Organisation usw.)." (ebd.: 57-58) 4.
Eine politische Utopie darf keine Form von politischem Eskapismus sein.
Dies wendet sich gegen eine "Suche nach der "radikalen Aktion", der absoluten Nicht-Teilhabe am herrschenden System" (ebd.: 59), gegen "die irrige Idee, es gebe eine "Abkürzung" bei der mühsamen Veränderung der Verhältnisse" (ebd.). "Radikal sein heißt im Sinne der freien Kooperation, keinen gesellschaftlichen Bereich, keine soziale Kooperation vom Anspruch der freien Kooperation auszunehmen; es bedeutet, sich diesen Anspruch nicht abkaufen zu lassen; und es bedeutet, ihn wirklich durchsetzen zu wollen und sich nicht mit symbolischen Gesten zufrieden zu geben." (ebd.: 58) Nach Christoph Spehr: Gleicher als andere. Eine Grundlegung der Freien Kooperation. In: Christoph Spehr (Hrsg.): Gleicher als andere. Eine Grundlegung der freien Kooperation. Berlin: Karl Dietz Verlag 2003. S. 19-116.

Der Text von Christoph Spehr ist u.a. nachzulesen unter http://www.thur.de/philo/polutopie.htm

 

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