Widersprüche in Naturwissenschaft und Dialektik

Das Verhältnis von Naturwissenschaft und dialektischer Philosophie bzw. von objektiven Widersprüchen und der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit ihrer wissenschaftlichen Erkenntnis ist sehr grundlegend für eine Philosophie, die den Anspruch hat, wissenschaftlich begründet und dialektisch zu sein.
Es ist deshalb einigermaßen erstaunlich, dass die Frage, wie die Naturwissenschaft mit dialektischen Widersprüchen umgeht, sehr selten ausführlich diskutiert wurde. Ich kenne hierzu zwei Standpunkte, die sich in wesentlichen Fragen deutlich unterscheiden - zum einen von Herbert Hörz und zum anderen von Renate Wahsner und H.-H.v. Borzeszkowski.

Herbert Hörz untersuchte diese Fragestellung bereits 1964 ausführlich, leider wurde diese Thematik meines Wissens nur in einem englischsprachigen, kaum zitierten Text von 1982 wieder aufgegriffen und auch sonst nicht tradiert. Demnach seien dialektische Widersprüche nicht nur in Entwicklungsprozessen zu suchen, sondern auch in Struktur und Bewegung vorhanden.)*
Der seit Zenon bekannte Widerspruch der Bewegung wird als Widerspruch zwischen Kontinuität und Diskontinuität bestimmt:

"Der Körper (S) befindet sich in Bezug auf einen diskontinuierlich aufzeichenbaren Weg (R1) an einem bestimmten Ort (P1) und in Bezug auf den kontinuierlichen Übergang von einem Ort zum anderen (R2) an einem unbestimmten Ort (nicht-P1). (Hörz 1982, S. 207) Mit der Grenzwertbildung des Differenzenquotienten von Orts- und Zeitabständen (Geschwindigkeit) werden Diskontinuität und Kontinuität auf eine bestimmte Weise verbunden. Diese Grenzwertbildung unterliegt zwei widersprüchlichen Bedingungen:
  1. Zu jedem bestimmten Zeitpunkt muss der Körper einen genau definierten Ort besitzen (Diskontinuität bezüglich des Ortes).
  2. Der Übergang von einem Ort zum nächsten muss stetig sein (Kontinuität bezüglich der Geschwindigkeit)(Hörz 1964, S. 34).
In der klassischen Bewegungsauffassung existieren beide Seiten beziehungslos nebeneinander (ebd., S. 41); letztlich wird Bewegung als Aufeinanderfolge von Ruhepunkten betrachtet; nicht die Bewegung selbst, sondern das Ergebnis der Bewegung wird erfasst (ebd., S. 39). Hörz erwähnt zwar, dass physikalische und philosophische Theorie nicht gleichzusetzen sind (ebd., S. 57), geht aber davon aus, dass "die Verabsolutierung der klassischen Bewegungsauffassung innerhalb der klassischen Mechanik einer Kritik unterzogen werden" müsse (ebd., S. 48). Unklar bleibt hier, ob die Bewegungsauffassung der klassischen Mechanik (also der Physik) hier mit Mitteln der Philosophie kritisiert werden soll, oder lediglich die verabsolutierende Übertragung der physikalischen (klassischen) Bewegungsauffassung in mechanizistische Weltbilder. Auch nach einer Legitimität der "Mängel" dieser Bewegungsauffassung in der Klassischen Mechanik wird hier nicht gefragt.
Hörz behauptet nicht explizit, dass die Bewegungsauffassung der Quanten- und Elementarteilchentheorie "dialektischer" sei als die klassische; allerdings sind einige der klassischen Mängel dort abgestellt: Die Wechselwirkung der sich bewegenden Naturobjekte mindestens mit den Beobachtungsmitteln (in der Quantentheorie), sowie auch die inneren notwendigen Zusammenhänge (der Elementarteilchen in ihren Umwandlungen) müssen berücksichtigt werden. "Die Bewegung muß [...] als Widerspruch zwischen Kontinuität und Diskontinuität erfasst werden, der sich als Widerspruch zwischen den Wellen- und Korpuskeleigenschaften zeigt[...]." (Hörz 1964, S. 46) Andere Ansichten werden als einseitig kritisiert, weil sie entweder nur die kontinuierlichen (Schrödinger-Bild der Quantentheorie) oder nur die diskontinuierlichen Aspekte (Heisenberg-Bild) berücksichtigen (Hörz 1982, S. 214). Entsprechend Hörz wird in der Quantentheorie "die objektive Bewegung der Elementarobjekte unter Berücksichtigung ihrer Wechselwirkung [...] als dialektischer Widerspruch zwischen Wellen- und Korpuskulareigenschaften" (ebd., S. 55) dargestellt. Dies zeige sich auch daran, dass die Unbestimmtheitsrelationen keine Gleichungen, sondern Ungleichungen sind, "weil sie eine Einheit von Gegensätzen zum Ausdruck bringen" (ebd.). Ist dieses "zum Ausdruck bringen" schon der Inbegriff von Dialektik? Ist Physik hier "dialektisch" geworden? Dass auch in der Quantentheorie die volle Dialektik noch nicht erreicht ist, ergänzt Hörz in seinem Text von 1982. Es scheint so, als würde die Physik auf ihrem Entwicklungsweg der Dialektik immer näher kommen, ob sie diese aber jemals als Physik erreichen kann, scheint offen zu bleiben. Hörz wendet sich im allgemeinen grundsätzlich gegen "weltanschauliche Kurzschlüsse" zwischen Naturwissenschaft und Philosophie (vgl. Hörz 1876, S. 94), deshalb ist ihm nicht zu unterstellen, er würde die verschiedenen physikalischen Theorien aus philosophischer Sicht als mehr oder weniger dialektisch be- bzw. verurteilen. In den konkreten Texten zur Widersprüchlichkeit in der Natur und ihrer Erkenntnis verschwimmen diese Grenzen jedoch. In der Zusammenfassung des Textes von 1982 wird darauf verwiesen, dass die Theorie der dialektischen Widersprüche von heuristischer Bedeutung auch für die physikalische Forschung hat (vgl. auch Röseberg 1986). Für den Verlauf der Geschichte der Physik wird häufig ein gewisser "Zwang zur Dialektik" konstatiert (z.B. Hörz 1984, S. 133) und Hörz sieht einen neuen Wissenschaftstyp entstehen, der "durch den Übergang vom Struktur- und Prozessdenken zum Entwicklungsdenken" (ebd., S. 137, vgl. auch Ley 1975) gekennzeichnet sei. Hier bleibt wieder die Frage nach dem Verhältnis von naturwissenschaftlichem Evolutionsbegriff und philosophischem Entwicklungsbegriff ungenannt und es bleibt ungeklärt, zu welcher Art Entwicklungsdenken die notwendigen Spezifika der Naturwissenschaft, z.B. ihre Verwendung von Mathematik (zum Unterschied von objektiven und mathematischen Strukturen vgl. auch Röseberg 1986, S. 58) führen können.

Wahsner und Borzeszkowski bestehen darauf, dass die naturwissenschaftliche Methode notwendigerweise die dialektische Widersprüchlichkeit nicht als solche erfassen kann. Der Widerspruch der Bewegung wird hier in anderer Weise diskutiert als bei Hörz. Nicht die Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität innerhalb der Theorieentwicklung und der Theorien selbst wird untersucht, sondern darauf verwiesen, dass das Prinzip des physikalischen Denkens darin besteht, die in Einheit bestehenden Momente des Widerspruchs der realen Bewegung auf gegensätzliche Bestimmungen zu verteilen (Dualisierung) und auf diese Weise physikalische Größen als Objekte der Physik zu bilden (Wahsner 1981, S. 12; vgl. Wahsner, Borzeszkowski 1992, S. 23f., 126). Nur solche Messgrößen können verglichen und gemessen werden und darauf beruht letztlich Naturwissenschaft. Auf diese Weise gehören zu jeder einzelwissenschaftlichen Theorie (welche die dynamischen, "aktiven" Prinzipien enthält) auch deren erkenntnistheoretischen Voraussetzungen ("passive Prinzipien", z.B. raumzeitliche messtheoretische Voraussetzungen, Erkenntnismittel im weitesten Sinne), die nicht selbst Gegenstand der Dynamik, der Theorien sind. Sie werden nicht bloß vorausgesetzt (sondern werden durch die Theorie selbst erst bestimmt); sie sind nicht bloß subjektive Setzungen, sondern beruhen auf realen, allerdings vereinzelten Verhaltensweisen der realen Naturgegenstände (z.B. Längenvergleichbarkeit, gegenseitige Schwere...). Zur Analyse der Wissenschaft gehört demnach nicht nur die Dynamik in den Gesetzen der Theorien (aktive Prinzipien), sondern ebenso die jeweiligen Erkenntnismittel (passive Prinzipien). Die Widersprüchlichkeit ist nur in dieser Gesamtheit aufweisbar, nicht in der Theorie (Dynamik, System von Gesetzen) allein. Insoweit die Wissenschaft als Prozess begriffen wird (Hörz 1988, Röseberg 1984), so ist zu ergänzen, lässt sich die logische Dualität der Prinzipien in Form von historisch wirkenden Problemantinomien aufzeigen.
Eine direkte Übertragung naturwissenschaftlicher Ergebnisse in eine Weltinterpretation ist damit unzulässig. Es würde dann so getan, als wären die des Widerspruchs beraubten Objekte der Naturwissenschaft (die Messgrößen...) die Naturgegenstände selbst. Diese erkenntnistheoretisch bestimmte Verfasstheit der Naturwissenschaft gilt auch für hoch entwickelte Theorien, wie die Quantentheorie oder die Relativitätstheorie weiterhin. Zwar werden hier mehr und mehr reale Verhaltensweisen auch stärker in ihren Wechselbeziehungen erfasst - aber immer unter der Maßgabe der Dualisierung der Widersprüchlichkeit. Sobald diese aufgehoben würde, würde Naturwissenschaft in Philosophie übergehen und ihre Spezifik verlieren. Aus diesem Grund kann Naturwissenschaft nicht selbst die vollständige (begriffslogische, wenn auch materialistisch auf die reale Welt bezogene) Dialektik erfassen, sondern nur verschiedene ihrer wesenslogischen Momente.

Auch die oben bei Hörz erwähnten Ausdrücke der Dialektik in der Naturwissenschaft sind nicht selbst dialektisches Denken, sondern zeigen verständige Reflexionsbestimmungen. Röseberg betont, dass die Dialektik im Bereich mathematisierter Theorien in ihrem Verständnis als Erkenntnisprozessresultate liegt (Röseberg 1986, S. 71). Es gibt keine strikte Scheidung zwischen Verstand und Vernunft, aber es gibt deutlich unterscheidbare Prinzipien und Methoden von Naturwissenschaft und Philosophie. Die Erklärung der erkenntnistheoretischen Bedeutung der spezifischen Form der Widersprüchlichkeit in der Physik, der Dualität, durch Wahsner und Borzeszkowski vertieft das Verständnis dieser auch von Hörz aufrecht erhaltenen Unterscheidung. Die Physik widerspiegelt nicht unvermittelt je zwei objektive Momente der Widersprüchlichkeit, sondern die Erkenntnissubjekte verwenden je eine Seite als erkenntnisvermittelnde Voraussetzung.


)*
Der
Gegenstand von Physik ist auch bei Hörz nicht Entwicklung, sondern lediglich Veränderung (vgl. Hörz 1964, S. 50). In einer Debatte in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie verteidigten F. Gehlhar und N. Hager explizit die Entwicklung als Gegenstand der Physik gegen Wahsner und Borzeszkowski, (vgl. Wahsner, Borzeszkowski 1982; Gehlhar, Hager 1982). Zurück


Literatur

Gehlhar Fritz; Hager, Nina (1982): Physik und Entwicklungsdenken. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 1982, Heft 5. S. 622-634.

Hörz, Herbert (1964): Atome, Kausalität, Quantensprünge. Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften.

Hörz, Herbert (1976): Marxistische Philosophie und Naturwissenschaften. Berlin: Akademie-Verlag.

Herbert Hörz (1982): Dialectical Contradictions in Physics. In: Dialectical Contradictions: Contemporary Marxist Discussions. Minneapolis: Marxist Educational Pr. Studies in Marxism Vol. 10. (ed. by Erwin Marquit, Philip Moran, Willis H. Truitt). p. 201-222.

Hörz, Herbert (1984): Dialektik in der naturwissenschaftlichen Erkenntnis. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. 1984, Heft 2, S. 133-141.

Hörz, Herbert (1988): Wissenschaft als Prozeß. Grundlagen einer dialektischen Theorie der Wissenschaftsentwicklung. Berlin: Adademie-Verlag.

Ley, Hermann (1976): Zum Stand der Entwicklungstheorie in den Naturwissenschaften. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. 1975, Heft 7, S. 964-980.

Röseberg, Ulrich (1984): Szenarium einer Revolution. Nichtrleativistische Quantenmechanik und philosophische Widerspruchsproblematik. Berlin: Akademie-Verlag.

Röseberg, Ulrich (1986): Dialektischer Widerspruch und Natur. Überlegungen zur Relevanz des Engelsschen Konzepts für mathematisierte Naturwissenschaften. In: Naturdialektik - Naturwissenschaft. Das Erbe der Engelsschen "Dialektik der Natur" und seine aktuelle Bedeutung für die Wissenschaftsentwicklung. Berlin: Akademie-Verlag (Hrsg.: Manfred Buhr, Herbert Hörz), S. 49-76.

Wahsner, Renate (1981): Das Aktive und das Passive. Zur erkenntnistheoretischen Begründung der Physik durch den Atomismus - dargestellt an Newton und Kant. Berlin: Akademie-Verlag.

Wahsner, Renate; v. Borzeszkowski Horst-Heino (1982): Physikalische Bewegung und dialektischer Widerspruch. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 1982, Heft 5. S. 634-644.

Wahsner, Renate; Borzeszkowski, Horst-Heino von (1992): Die Wirklichkeit der Physik. Studien zu Idealität und Realität in einer messenden Wissenschaft. Frankfurt am Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien: Verlag Peter Lang.





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