Die mögliche utopische Zukunft Arbeitsorganisation
Lernen/Studieren
Politik
Geschlecht/Rasse
Über Fortschritt
Psychiatrie

Die mögliche utopische Zukunft

Arbeitsorganisation

"Müßt Ihr denn nie arbeiten?" fragte sie ärgerlich[...]."So viele Erwachsene machen sich auf, nur um dabei zu sein, wie ein zwölfjähriges Kind einen Ausflug macht. Das ist wirklich die mahana-Haltung."
"Wir haben eine hohe Produktivität!" Lucientes schwarze Augen blitzten entrüstet. "Mouth-of Mattaposett exportiert Protein in Form von Flundern, Heringen, Maifischen, Schildkröten, Gänsen und Enten und außerdem unseren eigenen Blaukäse. Wir stellen Daunenjacken, Steppdecken und Kissen her[...]"
"Warum hat es niemand eilig? Warum laufen einem die Kinder ständig zwischen den Beinen herum? Wie könnt ihr soviel Zeit mit Reden verschwenden?"
Jackrabbit ruderte mit den Armen wie eine Windmühle. "Wie lange braucht person, um Nahrungsmittel anzubauen und nützliche Dinge herzustellen? Außerdem kümmern wir uns um unseren Brüter, kochen in unserem Eßhaus, sorgen für die Tiere, erledigen die Routinearbeiten wie Saubermache, Politik und Versammlungen. Da bleiben uns noch viele Stunden, um miteinander zu reden, zu studieren, zu spielen, zu lieben, den Fluß zu genießen."
"Im Frühjahr bei der Aussaat, in der Erntezeit, wenn ein Sturm aufzieht, wenn es irgendeine Krise gibt, Connie, dann arbeiten wir, wir schuften bis zum Umfallen. Die alten Leute erzählen, daß sie früher die ganze Zeit so schuften mußten. Und der Kampf, bis alles umgewälzt und verändert war, hat lange gedauert. Und danach war die ganze Welt aus dem Gleichgewicht geraten, vom Berggipfel bis ins Meer." Luciente zeigte in die Ferne. "Heute brauchen wir uns unter normalen Umständen nicht so anzustrengen[...]. Verstehst du, nachdem wir die Jobs abgeschafft hatten, die darin bestanden, anderen zu sagen, was sie zu tun hatten, das Geld zu zählen und es herumzuschieben oder Leute zu etwas zu zwingen, was sie gar nicht tun wollten, oder ihnen auf die Finger zu hauen, wenn sie machten, was sie wollten – danach hatten wir viele Leute zum Arbeiten. Die Kinder, die Alten, Frauen und Männer. Alle arbeiten. Wir investieren eine Menge Arbeit, damit alle genug zu essen haben, ohne daß dabei der Boden zerstört wird, dessen Gesundheit und Fruchtbarkeit wir erhalten wollen. Und weil fast alle nur einen Teil ihrer Zeit damit verbringen, richtet sich niemand zugrunde, schindet sich niemand so ab wie die Bauern damals von früh morgens bis spät in die Nacht[...] Im März zum Beispiel arbeite ich vielleicht sechzehn Stunden. Im Dezember vier..."

"Du hast gesagt, ihr macht Jizzer und Steppdecken. Wo sind die Fabriken?"
"Wir sind eben an einer Kissen- und Steppdeckenfabrik vorbeigegangen."
"Die möchte ich sehen!" Als sie Eddi kennenlernte, hatte sie in einer Fabrik gearbeitet, wo viele spanischsprachige Frauen Kinderkleider nähten.
Jackrabbit sprang voraus, und die Tür öffnete sich. In dem dunklen Innenraum war niemand zu sehen die Maschinen machten den größten Lärm, den sie bisher im Dorf gehört hatte." Ist das hier alles automatisiert?" schrie sie.
"Wahrhaftig", schrie Jackrabbit zurück. "Wer will schon Kissen stopfen? [...] Und die gesteppten Daunenjacken –die sind sehr warm, aber wer möchte jedes einzelne Feld auffüllen?"
"Zuerst werden sie gefüllt und dann genäht", sagte sie. "Also arbeitet niemand hier in dieser Fabrik? Nicht einmal ein Aufseher?"
"Alles automatisiert", sagte Luciente. "Das Analysierende [statt männlicher oder weiblicher Form wird immer die sächliche benutzt, A.S.] hat durch ständige Monitorüberwachung und durc die Rückkopplung alles unter Kontrolle..." (S. 152-154)

"Schon mal was von Faulheit gehört? Angenommen, ich will morgens einfach nicht aufstehen?"
"Dann muß ich deine Arbeit zusätzlich zu meiner tun, wenn ich in deiner Basis bin. Oder ich muß deine Aufgabe bei der Verteidigung oder bei der Kinderversorgung übernehmen, wenn ich in deiner Familie bin. Mit der Zeit werde ich dir das übelnehmen, und wer will schon den Groll der anderen auf sich ziehen? Solche Leute bittet man zu gehen, und sie wandern dann vielleicht von einem Dorf zum anderen, jedesmal bitterer und immer mehr erfüllt von Selbstmitleid. S ist traurig..." (S. 120)

"Wer kocht bei Euch? Was für Fleisch ist das?" fragte sie zwischen zwei Bissen.
"Gänsebraten. Wir machen es abwechselnd. [...] Wir haben jeden Abend nach dem Rotationsprinzip eine Kochperson und vier Hilfen."
"Und wer räumt auf?"
"Maschinen. Abspülen will keines."
"Das war bei uns schon so. Und funktioniert das auch?"
"Besser als Menschen funktionieren! Maschinen sind geduldiger. Für´s Abspülen sind wir bereit, kostbare Energie zu verbrauchen." (S. 208=

Luxus:
"Wir geben den Genuß weiter, [...]. An meinem Geburtstag letztes Jahr zum Beispiel habe ich ein Zobelcape getragen wie die Königin der Nacht. Ich habe mich mit Smaragden geschmückt, und einen Monat lang hing bei mir ein Michelangelo, und ich konnte ihn jeden Tag ansehen. Allen Genuß, den ich aus diesen Dingen ziehen kann, habe ich gehabt, und dann sind sie weiter gegeben worden, damit andere sie genießen können." (s. 212)

Lernen/Studieren

In einem der Spinnennetzgärten pflückte ein alter Mann Erbsen in einen Korb und jätete Unkraut in einem anderen[...] Zwei neun oder zehn Jahre alte Kinder arbeiteten an seiner Seite.
"Wieso sind sie nicht in der Schule?" fragte Connie. "Sind schon Sommerferien?"
"Das ist Schule", sagte Luciente und zog Connie näher heran.
"Das hier ist Feldsalat, oder?" fragte ein Kind.
"Kann person das essen?"
"Klar."
"Sieh dir die Form der Erbsenblüte an. Die meisten Gemüse haben unregelmäßige Blüten mit fünf Blättern, siehst du? Die zwei unteren bilden einen Kegel genau wie bei einem Fischerboot[...].
Beim Weitergehen sagte Connie:" Aber so können sie unmöglich soviel lernen wie in der Schule mit einem Buch.!"
"Sie können lesen. Wir können alle mit etwa vier lesen[...] Aber wer möchte schon heranwachsen und den Kopf voll mit Kästchen haben, in denen Fakten stecken. Wir gehen nicht von der Schule ab und anschließend zur Arbeit. Wir arbeiten immer, und wir studieren immer. Wir meinen, daß person ständig erproben muß, was person zu wissen glaubt, und es an den Bedürfnissen der Menschen messen muß. Wir legen viel Wert darauf, wie etwas gemacht wird."
"Alle sieben Jahre hat person ein Sabbatjahr", sagte Luciente. "Du wirst für ein Jahr von der Produktion freigestellt und bist nur noch für Familienkram verantwortlich. Manche studieren weiter in ihrem Bereich. Andere lernen eine Sprache oder verreisen oder werden Einsiedlerpersonen in der Wüste. Oder sie verfolgen irgendein privates Forschungsprojekt, sie malen, oder schreiben ein Buch." (S., 156)
"Hast Du am College studiert?" Vielleicht würde er sie nicht niederschlagen oder ausrauben[...]
"Was ist das?"
Sie blickten einander gleichermaßen verwirrt an: "Wo man studiert. Um einen akademischen Grad zu erwerben", fuhr in Conny an.
"Einen Wärmegrad? Nein... als eine hierarchische Gesellschaft habt ihr Grade, die eine Rangordnung ausdrücken. So wie Fürsten und Grafen?" Luciente blickte unglücklich drein. "Studieren verstehe ich schon. Ich selbst habe bei Rose von Ithaka studiert!" Er legte eine Pause ein...
"Okay, wo studiert man? An einem College. Was bekommt man dort, falls man das Studium abschließt? Einen Akademischen Grad."
[...]
"Wir studieren bei jeder Person, die uns etwas beibringen kann. Natürlich fangen wir mit dem Lernen in unserem eigenen Dorf an. Aber nach der Namensgebung gehen wir zum Lernen, wohin es uns bestimmt ist, obwohl eine Lehrperson immer nur eine begrenzte Anzahl von Studierenden betreuen kann. Ich habe zwei Jahre lang darauf gewartet, daß Rose mich nimmt. Wohin du gehst, hängt davon ab, was du studieren willst. ... " (S. 60/61)

Politik

Von Sechzehnjährigen bis zu steinalten Leuten war jedes Alter vertreten[...] Sie sprachen in normalem Tonfall, und niemand schien große Reden zu schwingen. Hinter manchem, die ihren Platz am tisch hatten, saßen andere, die aufmerksam zuhörten und gelegentlich ihre Bemerkungen und Fragen einwarfen.
"Wir haben die Redezeit auf fünf Minuten begrenzt. Wir sind der Ansicht, daß alles, was person nicht in fünf Minuten sagen kann, am besten ungesagt leibt." Luciente und sie holten sich Stühle [...]
"Das ist eure Regierung?"
"Der Planungsstab für unsere Gemeinde."
"Sind sie alle gewählt?"
"Durch Losentscheid. Person macht das ein Jahr lang. Drei Monate macht das Del von dir, drei mit deinem Nachfolgenden und sechs alleine." (S. 180-181)
[...]
"Du, ich kapiere das nicht," sagte Connie. "Falls die Arbeiter in einer Fabrik, sagen wir der Kenner-Fabrik, mehr Kenner herstellen wollen, und der Planungsstab beschließt, ihnen weniger Material zu geben, wer gewinnt dann?"
"Wir streiten miteinander", sagte der Mann. "Was denn sonst?"
"Es gibt keine letzte Autorität, Connie", sagte Luciente.
"Die muß aber da sein. Wer sagt endgültig ja oder nein?"
"Wir streiten miteinander, bis wir am Ende Übereinstimmung erzielen. Vorher hören wir nicht auf. Ach, machmal ist das abscheulich. Deprimierend."
"Nach einer großen politischen Auseinandersetzung laden wir uns gegenseitig ein", sagte er Mann. "Diejenigen, die verloren haben, werden von den anderen verköstigt und beschenkt."
[...]
Politische Entscheidungen – ob wir zum Beispiel die Bevölkerungszahl erhöhen oder senken wollen – treffen wir anders. Wir sprechen auf Ortsebene miteinander und ernennen dann ein Del, das unsere Position im Rahmen einer Ringschaltung des gesamten Gebiets vertritt. Dann sitzen wir alle zusammen in einer Holi-Simultansendung, und das Del jeder Gruppe vertritt die Position jedes Dorfes. Dann geben wir alles zurück in die Versammlung auf Ortsebene, um zu einem endgültigen Urteil zu kommen. Anschließend diskutieren die Dels nochmals vor allen anderen. Dann stimmen wir ab."
"Ihr müßt furchtbar viel Zeit in Versammlungen verbringen." [...]
"Wenn Menschen über ihr Leben bestimmen wollen, geht das nur, wenn sie eine Menge Zeit in Versammlungen verbringen."
[...]
"Also gut, angenommen, ich will nicht an Versammlungen teilnehmen?"
"Wer könnte dich zwingen? Die Leute würden dich fragen, warum du nichts mehr damit zu schaffen haben willst. Deine Freunds schlagen vielleicht vor, daß du nach innen gehst oder mit einer Heilperson sprichst. Sollten deine Mits das Gefühl haben, daß du den Kontakt zu ihnen abbrichst, bitten sie dich vielleicht zu gehen. Wenn sich in einem Dorf zu viele isolieren, lassen die Nachbardörfer ein Kontaktteam kommen." (S. 185-186)

Geschlecht/Rasse

Luciente, der junge "Mann", erweist sich als Frau. Connie hatte sie vor allem deswegen nicht erkannt, weil sie sich in einer Art bewegte, die zu ihrer Zeit nur Männern zukam.

Die Kinder werden in künstlichen Gebärmüttern herangezogen und 3 Personen übernehmen bei der "Geburt" die freiwillige Mutterschaft bis zur Namensgebung (im ca. 12. Bis 14 Lebensjahr).
"Wie kann irgendein Kind, mit dem du nicht verwandt bist, dein Kind sein!" Sie machte sich los und entzog sich ihnen voller Verwirrung[...]
"Das war Teil der Revolution der Frauen, die die alten hierarchischen Strukturen zerbrochen hat. Am Ende war da die eine Sache, die wir auch aufgeben mußten, die einzige Macht, die wir jemals besessen hatten, im Austausch für keine Macht für niemand. Die ursprüngliche Form der Reproduktion: die Macht, Kinder zu gebären. Denn solange wir biologisch in Ketten lagen, konnten wir niemals gleich sein. Und die Männer konnten niemals so weit humanisiert werden, daß sie Liebe und Zärtlichkeit entwickelten. Also wurden wir alle Mütter. Jedes Kind hat drei. Um die Fixierung auf die Kleinfamilie zu unterbinden." (S. 125)

"Alle vermeiden es sorgsam, das auszusprechen, was doch offenkundig ist – daß Jackrabbit und Bolivar... nun, sie sind beide Männer. Sie sind homosexuell. So etwas dürfte einer Frau schwer zu schaffen machen."
"Aber warum?" Parra sah sie an, als sei sie tatsächlich verrückt. "Bei jeder Paarung, jeder Freundschaft sind biologisch gesehen Männer oder Frauen oder beide beteiligt. Aber männlich und weiblich sind keine sinnvollen Kategorien. Wir teilen die Menschen eher danach ein, was sie gut können und was sie weniger gut können, nach ihren Stärken und Schwächen, Begabungen und Defiziten." (S. 262)

Kultur/"Rasse":
"Im Großrat – dem Großen Delegiertenrat – wurde, vor vierzig Jahren beschlossen, einen hohen Prozentsatz dunkelhäutiger Menschen hervorzubringen und die Gene mit der ganzen Bevölkerung gut zu vermischen. Gleichzeitig haben wir beschlossen, an den unterschiedlichen kulturellen Identitäten festzuhalten. Aber das Band zwischen Gen und Kultur haben wir zerrissen, für immer zerrissen. Wir wollen dem Rassismus nie wieder eine Chance geben. Aber wir wollen auch nicht den Schmelztiegel, in dem alle zu einem Einheitsbrei vermengt werden. Wir wollen Vielfalt, denn Andersartigkeit bringt Reichtum hervor." (S. 123)

Über Fortschritt

"[...] Wir sollten uns nicht so arrogant benehmen, nur weil wir in einer höher entwickelten Gesellschaft leben, - schließlich stammen wir von ihnen ab."
"Höher entwickelt!" sagte Connie verächtlich. "Ich würde eher sagen, daß sich alles zurückentwickelt hat!"
"Unsere Technologie hat sich nicht geradlinig aus der euren entwickelt", sagte Luciente ernst[...] "Unsere Bodenschätze sind begrenzt. Unsere Planung ist kooperativ. Wir können es uns nicht leisten... auch nur irgend etwas zu verschwenden. Nach unseren Vorstellungen – ihr würdet wohl sagen, nach unserer Religion – sind wir Partner des Wassers, der Luft, der Vögel, Fische, Bäume."
"Wir haben viel von Gesellschaften gelernt, die einmal primitiv genannt wurden. Primitiv in technischer, aber hochentwickelt in sozialer Hinsicht." Jackrabbit ging nachdenklich neben ihnen her. "Wir haben versucht, von Kulturen zu lernen, die gute Formen der Konfliktlösung entwickelt hatten, die Kooperation, Mündigwerden, Gemeinschaftssinn förderten und eine positive Einstellung zu Krankheit, Alter, Wahnsinn und Tod hatten..."
"Ja, aber ihr werdet immer noch verrückt. Immer noch krank. Ihr werdet alt. Ihr müßt sterben. Ich habe geglaubt, daß man nach hundertfünfzig Jahren wenigstens ein paar von diesen Problemen gelöst hätte."
"Aber, Connie, manche Probleme lassen sich nur lösen, wenn wir aufhören, Menschen zu sein, wenn wir zu Robotern oder Computern au Metall und Plastik werden." (S. 150/151)

Psychiatrie

"In unsere Irrenhäuser ziehen die Leute sich zurück, wenn sie in sich selbst eintauchen wollen – um sich fallen zu lassen, zu toben, prophetische Stimmen zu hören, gegen die Wände zu schlagen, ihre Kindheit nacherleben, um zu ihrem verschütteten Selbst und ihrem inneren Geist in Berührung zu kommen. Uns allen gehen Teile unseres Selbst verloren. Wir alle treffen Entscheidungen, die sich als falsch erweisen... Wie kann eine andere Person bestimmen, daß es an der Zeit für mich ist, mich aufzulösen und neu zusammenzusetzen?" (S. 76)


Ach ja, über WC-Nutzung in Realität und Utopie gibts auch noch was...


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