Rezension von Annette Schlemm:

Bruce Sterling: Schismatrix

Argument Verlag 2000

 

Die Zukunft ist offen. Während utopische Romane der früheren Jahrzehnte meist eine mögliche Zukunft ausführlich beschrieben, zeigen die heutigen Zukunftsbilder meist eine gleichzeitige Vielfalt nebeneinander existierender zukünftiger Welten.

Besonders der Cyberpunk projiziert die schon jetzt existierende fragmentierte Realität in eine noch breiter aufgefächerte Zukunft.

In Bruce Sterlings Werk "Schismatrix" werden viele solcher Welten durch den Protagonisten Lindsay durchlebt und gestaltet. Glücklicherweise sind Gentechnik- und Biomechatronik bereits so weit entwickelt, daß Lindsays Leben Jahrhunderte umfaßt und Sterling die Leserinnen auf eine weite und lange Reise mitnehmen kann. Zwar entfernen wir uns dabei selbst nicht aus dem Sonnensystem - die Dimensionen der Social Fantasy, wie die Reihe im Argumentverlag heißt, in der "Schismatrix" auf deutsch erschien - liegen in anderen Bereichen. Die menschliche Körperlichkeit ist durch genetische Gestaltung oder biomechanische Ersatzteilwirtschaft völlig verändert. Mit diesen beiden unterschiedlichen Möglichkeiten entstanden Konflikte und Entgegensetzungen, die sich als ideologische und politische Strömungen letztlich feindlich gegenüberstehen. Der Autor gestattet den Leserinnen keine Gesamtschau und Übersicht über die Geschehnisse. Die Leserinnen bleiben, wie der Protagonist, innerhalb unübersichtlicher Interessen- und Kräftekonstellationen, werden einfach mitgenommen, bekommen überall nur geringe Einblicke. Lindsay wurde von den Genetik-Gestaltern in seiner Jugend verändert - die alternden Mechanisten hatten die Gesellschaft durch ihre Versorgungskosten beinah in den Ruin getrieben und durch ihr hohes Lebensalter verkrusteten die gesellschaftlichen Strukturen. Gegenüber den später seit ihrer Entstehung genetisch perfekt Gestalteten ist Lindsay jedoch nur unvollkommen. Er steht oft zwischen den Kampffronten und versteht es, Katastrophen rechtzeitig zu entkommen, und als sog. "Sonnenhund" zu überleben und dann auch immer wieder selbst zum Führer von Cliquen mit großem Einfluß zu werden. Sein bester Jugendfreund wird zu seinem erbitterten Feind. Die Ankunft der ersten Außerirdischen kann nur einige Jahrzehnte lang einen brüchigen "Investorfrieden" herbeiführen. In dieser Zeit entsteht die "Schismatrix", eine posthumane Ordnung im Sonnensystem, in der Toleranz die Regel sein sollte (S. 173). In ihr soll die Vielfalt eine Einheit bilden. Aber so viel anders ist die Welt dann doch nicht. "Nur die Probleme, Freunde, sind noch immer dieselben." (S. 190). Das Leben spielt sich mittlerweile in künstlichen Habitaten, auf Asteroiden und Raumschiffen ab - auf denen sich jeweils verschiedene Nationalitäten mit unterschiedlichen ideologischen und politischen Systemen entwickeln. Die Erde stagniert im Notstand. Was im einzelnen passiert, kann man nicht nacherzählen. Das Leben von Lindsay erinnert mich beim Lesen stark an die Geschichte von Dr. Faustus. Trotz seiner Geworfenheit innerhalb der äußeren Wirrnisse wird Lindsay von einem inneren Antrieb getragen. "Irgendwie... mußte man träumen oder sterben" (S. 307).

Obwohl "Schismatrix" ein richtiges, fast versöhnliches Ende hat, sucht man nach einem Sinn des Ganzen vergeblich. Und das ist auch der Sinn des Buches. Am Ende seines Lebens erkennt Lindsay bei einem Flug über die untergegangene Erde: "Tränen standen ihm in den Augen. Er weinte leise, rückhaltlos. Er betrauerte die Menschheit und die Blindheit der Menschen, die glaubten, der Kosmos besäße Gesetze und Grenzen, die sie vor ihrer eigenen Freiheit schützen konnten. Es gab keinen Schutz. Es gab keinen Endzweck. Sinnlosigkeit und Freiheit waren allumfassend." (S. 362).

Sterlings "Schismatrix" treibt die Widerspiegelung dieser Sinnlosigkeit nicht bis zum Unverständlichen. Es ist eins der erträglichsten Cyberpunkwerke, in denen die Anpassung der Menschen an höchstentwickelte kybernetische und genetische Techniken mit sozialer Düsternis verbunden wird und eignet sich deshalb gut für einen Einstieg in dieses Genre. Zwar propagiert es eher die Anerkennung der Anpassung an Technik und gesellschaftlichen Verfall - es ermöglicht aber auch eine geistige Distanzierung. Deshalb kann es eigentlich jedem an Zukunftsfragen interessierten Menschen empfohlen werden - als Vorbereitung auf das Kommende oder als Warnung.

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