Rezension von Annette Schlemm:

Bruce Sterling: Inseln im Netz

Wilhelm Heyne Verlag München 2002

 

Das bereits 1988 geschriebene Buch soll im Jahre 2020 spielen. Wir befinden uns geradewegs auf dem Weg in die hier beschriebene Welt. Es scheint so, als sei die Geschichte der Menschen tatsächlich vorherbestimmt und Bruce Sterling ist einer derer, die wirklich in die Zukunft schauen können.

Die heute schon alltäglichen Umweltkatastrophen hinterlassen hier und da jene Ruinen, auf denen die Leute in wenigen Jahren ihren Alltag leben werden. Gearbeitet wird in großen Weltkonzernen, die sich manchmal sogar fast richtige Demokratie leisten können. In der Firma gibt es keine Jobs mehr, sondern "nur Dinge, die zu tun sind und Leute, die sie tun" (S. 284).
  • "Mutter, Rizome [Name des Konzerns, A.S.] ist eine Demokratie. Wenn du aufsteigen und Macht haben willst, musst du gewählt werden."
  • "Macht ist, wo Entscheidungen getroffen werden, wo Aktion ist."
  • "Macht ist, wo Entscheidungen getroffen werden, wo Aktion ist."
Es ist erstaunlich, daß Bruce Sterling hier Tendenzen beschreibt, die politische und ökonomische Analysten erst einige Jahre später zaghaft vermuten. Nationalstaaten verlieren ökonomische Steuerungsfähigkeiten, dienen nur noch als Vehikel der Machtkämpfe der Konzerne. Ein Konzernvertreter verteidigt diese Entwicklung: "Nennen Sie es Rationalisierung. Es hört sich hübscher an. Wir entfernen unnötige Hindernisse auf dem Weg zu einer integrierten Weltwirtschaft. Barrieren, die zufällig Regierungen sind" (S. 263).
Die Ökonomie vernetzt sich neu - und sie wird gefährdet von Cyber-Terroristen und jenen, die als erste mit nicht-nur-ökonomischen Mitteln neue Claims im ökonomischen Cyber-Raum abstecken. Sogenannte Daten-Haie werden immer mächtiger. Sie gefährden nicht nur durch den Diebstahl und die Verwendung der gestohlenen Daten, sondern "das eigentliche Problem entsteht, wenn sie schneller und wendiger denken und handeln, als wir es können." (S. 72). Nicht ihre Macht bedroht uns, sondern ihr Einfallsreichtum. Kreativität kommt von kleinen Gruppen. Kleine Gruppen bescherten uns das elektrische Licht, das Automobil, den Personalcomputer. Bürokratien gaben uns Atomkraftwerke, Verkehrstaus und Kabelfernsehen. Die ersten drei veränderten alles. Die drei letzten sind heute nur noch Erinnerung. (S. 73) Die Mitarbeiter der Firmen sind es gewohnt, Verantwortung zu übernehmen und fragen sich: "Wollen wir den Weg der Entwicklung zu vernünftigen menschlichen Zielen lenken? Oder soll alles in eine Laissez-faire-Anarchie münden?" (S. 59). Bis die Protagonisten ins Kreuzfeuer rivalisierender Banden gelangen, ist diese Frage eher rhetorisch. Als jedoch direkt neben Laura, die ihr Baby im Arm hält, ein Gast ihres Ferienhauses erschossen wird, wird sie unaufhaltsam in den Strudel der Ereignisse gezogen, der sie für Jahre von ihrem Kind trennen wird. Laura versucht im Auftrag ihrer Firma zwischen verschiedenen Parteien zu vermitteln. Sie kann besonders gut mit Menschen umgehen - aber sie merkt bald, daß sie hier zum Spielball von politischen und ökonomischen Kräften wird, die sie nicht mehr durchschauen kann. Die erste Reise kann sie gemeinsam mit Mann und Kind unternehmen. Sie lernen Versuche kennen, eigenständige Ökonomien zu entwickeln. Ein Premierminister verkündet: "Meine Mitbürger - Singapur wird sich nicht länger mit einer aufgezwungenen unbedeutenden Rolle am Rande der Welt zufrieden geben. Unsere Löwenstadt ist niemandes Hinterhof, niemandes Marionettenstadt! Wir leben in einem Zeitalter der Information, und unser Mangel an Territorium schränkt uns nicht länger ein. In einer Welt, die in mittelalterlichen Schlummer zurücksinkt, ist unser Singapur der potentielle Mittelpunkt einer Renaissance" (S. 294). Laura und ihr Mann müssen erfahren, daß es in der Welt viele Gruppierungen gibt, die mit allen Mitteln aus der Herrschaft der Konzerne und der ihnen aufgezwungenen Lebensweise als Produzenten sinnloser Konsumgüter kämpfen. Sie erleben, wie sogar diese Gruppierungen instrumentalisiert werden... "All diese kriminellen Operationen - Singapur, Zypern, Grenada, auch Mali, das wir in seiner heutigen Form mitgeschaffen haben - müssen zerschmettert werden. Es musste so kommen. Was heute geschieht, war vorauszusehen. Der Dritte Weltkrieg ist da." (S. 259) Bruce Sterling verschätzte sich nur wenig - die Entwicklung vollzog sich noch schneller als er ahnte.
Auch daß die Terrorbekämpfung den braven Bürger nicht unangetastet lässt, weiß er. Ein Betroffener schildert: Heute wollte ich mein Mädchen fragen, ob es mich heiraten will... Aber dann kommt diese Sache mit der Ausgangssperre. Sie gefällt mir nicht sehr, aber ich bin ein guter Bürger und so sage ich mir, gut, Nur voran, ... fang die Terroristen und gib ihnen Saures, wie sie es verdient haben. Dann kommt die Polizei in mein Haus. Ich bewundere Polizisten... Sogar zehn Polizisten sind in Ordnung. Sind es aber hundert, ändere ich schnell meine Meinung. Plötzlich ist meine Nachbarschaft voll von Polizisten. Tausenden. Mehr als andere Leute. Stürmen in meine Wohnung. Durchsuchen jeden Raum, durchwühlen meine Sachen.... Ich kann meine Freundin nicht anrufen, kann meine Mutter nicht anrufen. ... Wenn dies zum Besten der Stadt ist, wo sind dann die Bürger? Die Straßen sind leer. Wo sind alle? Was für eine Stadt ist das geworden?... (S. 358/359) Auch für Laura wird es hart, sehr hart und immer wieder lebensgefährlich. Sie hatte sich - damit ihr Kind in einer lebenswerten Welt aufwachsen kann - eingemischt und opfert dafür viel. Dieses Opfer lässt auch im etwas versöhnlichen Ende des Buches nicht ganz vergessen, was es bedeutet:
  • Ich bin nur eine Person, aber ich tat, was in meinen Kräften stand.
  • Mehr als das kann niemand verlangen. (S. 573).

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