Reduktion des Menschlichen oder seine Befreiung?
- Das Dilemma von Sozionik und Multi-Agenten-Systemtheorie -

Eine neue Debatte um die Modellierbarkeit von Gesellschaft in Computern ist eröffnet. Nach den Forschungen zu klassischer Künstlicher Intelligenz (KI) und Neuronalen Netzen ermöglicht das Konzept der Verteilten Künstlichen Intelligenz (VKI) die Modellierung von Interaktionen durch aktive technische "Agenten" und nähert sich auf diese Weise der Modellierung realer Gesellschaften an. Soziologen wehren sich berechtigt gegen die Gefahr ihrer Substitution. Unter Beachtung wichtiger Voraussetzungen ist eine Zusammenarbeit jedoch für beide Seiten fruchtbringend. In den eher populären Veröffentlichungen jedoch werden die methodischen Grundlagen meist nicht ausreichend differenziert.

Sozionik

Wie in der Bionik Mechanismen aus der Pflanzen- und Tierwelt für die Konstruktion von Technik genutzt wird, so möchte die Sozionik soziale Mechanismen zur Verbesserung von Computersystemen nutzen. Sie dient entsprechend ihrer Benennung als DFG-Schwerpunktprogramm der "Erforschung und Modellierung künstlicher Sozialität".
Die Sozionik arbeitet in zwei Richtungen: Einerseits wird versucht, die Soziologie als Hilfs- bzw. Grundlagenwissenschaft für die Informatik nutzbar zu machen ("schwache" Sozionik). Technische Algorithmen für die massive Parallelverarbeitung und komplexe Netzwerkarchitekturen werden beispielsweise nach dem Vorbild sozialer Systeme entworfen (Malsch, Florian, Jonas, Schulz-Schaeffer 1996).
Andererseits werden auch Software-Implementionen angestrebt, aus denen sich Rückschlüsse für die Soziologie ergeben ("starke" Sozionik, Müller, Malsch 1998). Vor allem beim Methodentransfer (empirische Untersuchungen und Datenauswertung) ergeben sich praktikable Anwendungen.

Die bisherigen deterministischen und linear arbeitenden Techniken standen schon vom Prinzip her im Widerspruch zur Komplexität der sozialen Welt. Die Forschungen zur Künstlichen Intelligenz haben keine Interaktionen im Blick und sehen die Intelligenz an Einzelwesen gebunden und inhaltlich lediglich durch Symbolverarbeitung bestimmt. Erst das Konzept der Neuronalen Netze enthält Interaktionen.
In der Zwischenzeit haben sich die technischen Möglichkeiten erweitert. Es gibt Konzepte der Verteilten Künstlichen Intelligenz (Müller) sowie Multi-Agenten-Systeme, d.h. Softwarekomponenten, bei denen einzelne Teile (" Agenten") Programmabläufe selbsttätig ausführen und variieren können und auch miteinander kommunizieren.

Dadurch ergeben sich u.a. folgende Forschungsfragen für die Sozionik:

  • Wie kann die Technik von der Gesellschaft (oder von den Gesellschaftswissenschaften) lernen?
  • Wie kann die Soziologie sich neuer Techniken aus dem Bereich der Künstlichen Intelligenz zunutze machen?
  • Wie kann die Interaktion zwischen menschlichen und künstlichen AgentInnen beschrieben werden? (Malsch 1998)

In der "starken" Sozionik werden auch Beispiele zustimmend genannt, bei der Simulation der Fundierung gesellschaftstheoretischer Thesen dient. So wird ein Projekt explizit dargestellt als ein "Versuch zu zeigen, dass eine Wirtschaftspolitik des Lasser-faire halten kann, was sie verspricht: nämlich eine faire und stabile Verteilung von Ressourcen" (Braun, Imhof).

Übergänge zwischen den Bereichen Soziologie und Informatik sind beispielsweise (nach Malsch 1997):

 

Von Biologie und Soziologie in Informatik

Von Informatik in Soziologie und Biologie

  • Multi-Agenten-System in Verteilte-Intelligenz-Informatik
  • Suche nach allgemeinen, computertechnisch verwertbaren Funktionsprinzipien der Komplexitätssteigerung
  • Informationsbegriff für Genetik
  • Autopoiese, binäre Codierung für Luhmanns Soziologie
  • Suche nach "micro-macro link" zwischen gesellschaftlichem Handeln und Sozialstruktur
  •  

    Verteilte Künstliche Intelligenz als Werkzeug menschlichen Handelns

    Mit der Entwicklung miteinander interagierender Software-Agenten entstehen Werkzeuge menschlichen Handelns, die Teil der realen Welt werden und bisher menschliche Aufgaben übernehmen (auf elektronischen Marktplätzen etc.). Das Ziel der Verteilten Künstlichen Intelligenz (VKI) besteht darin, "die Grenzen von individueller maschineller Intelligenz durch Techniken des verteilten Problemlösens, des Multiagenten-Systeme, der offenen Systemarchitekturen u.ä. zu überschreiten und leistungsfähige Programme zu entwickeln, die auf Prinzipien einer kooperativen, aushandlungsfähigen und sozialen Intelligenz beruhen" (Marsch 1997).

    Die Simulation des Sozialen

    Mit den neuen Technik lassen sich auch einige soziale Wechselwirkungen zwischen Menschen (und nur solche sind "soziale") simulieren und untersuchen. Die Betonung liegt hier auf dem Wort "einige" - was nicht in allen Veröffentlichung deutlich genug gesagt wird. Ihre Reichweite erweitert sich ständig weiter. Die modellierten Agenten sind nicht nur passiv, sondern aktiv, können verändert werden und sich verändern, sie können vorhandene Regeln anwenden, kombinieren oder neue entwickeln. Es wird kaum möglich sein, eine Grenze zum Menschlichen im Machbaren festzumachen. Diese würden in Zukunft sicher überschritten.

    Die Einheit der betroffenen Teilgebiete (Mikroökonomie, reduktionistische Sozialtheorien und zellulare Automaten (nach Braun, Imhof)) und damit die Analogie und Simulierbarkeit rührt aus der Eigenschaft komplexer Systeme, daß aus einfachen Mikroregeln komplexe Makrophänomene emergieren. Durch diese Einheit dürfen jedoch die Unterschiede nicht unzulässig eingeebnet werden. Ein wesentlicher Unterschied besteht bspw. darin, daß für die Betrachtung der Gesellschaft die Komplexität bereits als Bedingung vorausgesetzt werden muß und sie nicht erst als Resultat der Interaktionen entsteht, wie das Emergenzkonzept annimmt (Braun, Imhof). Dem entspricht die auch in die VKI übernommene Ansicht, daß die Gesellschaft nicht aus dem Zusammenwirken von vereinzelten Individuen resultiert, sondern menschliche Individuen selbst sozial konstruiert werden (vgl. Malsch 1997).

    Inhaltlich teilen sich Soziologie und klassische Künstliche-Intelligenz-Forschung lediglich den Bereich der wissenstragenden Informationen. Sie sind die bestimmenden Elemente moderner Produktivkräfte an der Schnittstelle zwischen Gesellschaft und Technik.

    Methodische Fallstricke

    Es ist notwendig, den Gegenstandsbereich seiner wissenschaftlichen Arbeit zu beschränken. Auch das Thema der Struktur- und Verhaltensanalogien komplexer Systeme ist ein legitimer Gegenstand wissenschaftlicher Arbeit.

    Jedoch überschreiten einige ihrer Vertreter zumindest in den populären Veröffentlichungen diese Schranken der Gegenstandsbestimmung. Sie weiten die Verwendung von Begriffen (Intelligenz, Handeln, Entscheiden...) so weit aus, daß deren inhaltliche Bestimmung (und Bezug auf menschliches Handeln) verloren geht. Tatsächlich wird formuliert: "Im Zuge der agentenorientierten Wende der Künstlichen Intelligenz hat sich eine Strömung in der Computerwissenschaft soziologischen Grundbegriffen zugewandt und sich ihrer bemächtigt" (Braun, Imhof 1999). Dadurch entstehen nicht nur kleine Verwechslungen, sondern es wird suggeriert, es bestünde keine qualitative wesentliche Unterscheidung zwischen dem Agieren von Software-Agenten, Molekülen und Menschen in ihrer Gesellschaft.

    "Neuere Entwicklungen der Software-Forschung stellen die Unterscheidung von sozialen und technischen Systemen in Frage" (Braun, Imhof 1999).

    Einer voreiligen Identifikation technischer und sozialer Systeme entgeht erst jene Perspektive der Sozionik, die die kritisierte Abbildungsäquivalenz verneint, um die Wirkung von Metaphernimigrationen zu untersuchen. Dabei vollzieht sich ein interessanter Prozeß: Methaphern von Geist, Gehirn oder Gesellschaft wandern (unabhängig von der Abbildungsäquivalenz) in die Informatik hinein, werden transformiert und führen letztlich doch zu Innovationen im Bereich der "schwachen" Sozionik, die mit der ursprünglichen Metapher kaum noch etwas zu tun haben (Malsch, Florian, Jonas, Schulz-Schaeffer, 1996).

    Genauso konsequent muß im Bereich der "starken" Sozionik vermieden werden, eine Abbildungsäquivalenz in Richtung des Sozialen anzunehmen. Jede Überschreitung des Gegenstandsbereichs sozionischer Forschungen in Richtung der Gesellschaft ist zu kritisieren. Gesellschaft ist nicht nur komplex. Ihre Komplexität ist konkret qualitativ bestimmt, historisch veränderlich und in ihrer Entwicklung von menschlichen Handlungen Entscheidungen abhängig. Das qualitativ Menschliche und Historische in ihrer bewußten Gestaltung und Gestaltbarkeit unterscheidet die Gesellschaft von blindem Funktionieren miteinander wechselwirkender unbelebter oder unbewußter Momente - so komplex sie auch seien.

    Der Beitrag der Soziologie bei der Verbindung von Soziologie und Technik besteht unter anderem gerade darin, auf diese wichtigen Unterschiede aufmerksam zu machen: Sie machen beispielsweise die Wissensingenieure darauf aufmerksam, daß "Wissen überindividuelle, gesellsschaftliche Qualitäten auf(weist), die aus kognitivistischer Perspektive überhaupt nicht in den Blick kommen. Wissen wird im sozialen Lebenszusammenhang erzeugt, benutzt, tradiert und weiterentwickelt (Malsch, Florian, Jonas, Schulz-Schaeffer 1996)."

    Es gibt nach Malsch (Malsch 1997) zwei verschiedene Strömungen der VKI-Forschung. In der einen Strömung, vertreten durch Gasser, geht es nicht vorrangig darum, Gesellschaft zu erklären, sondern lediglich um die Entwicklung neuer Computertechnologie. Aber in der anderen Strömung, vertreten durch Hewitt, Castelfranchi, Conte, Radermacher u.a., soll explizit die Soziologie durch die Computerwissenschaft fundiert werden. Von der Soziologie her wird dieser Anspruch und diese Herausforderung eher abgelehnt. Unter der gemeinsamen Voraussetzung, wirkliche und modellierte Systeme nicht zu verwechseln, kann eine weitergehende wissenschaftliche Zusammenarbeit jedoch fruchtbar gemacht werden. Malsch erläutert diese Zusammenhänge ausführlich und sorgfältig.

    Die Wirkungsbereiche von moderner Technik und Soziologie sind hochkomplex. Auf dieser Grundlage sind wechselseitige Analogien und Simulationen durchaus aussagefähig. Problematisch wird erst die unbedachte oder bewußt eingesetzte Überziehung der Analogien, wenn die qualitativen Unterschiede der Bereiche unter den Tisch gekehrt werden. Am schlimmsten wirkt dies, wenn dabei das Wesen, die wesenseigenen Triebkräfte und Faktoren der jeweiligen Bereiche mißachtet werden.

    Nicht direkt in der wissenschaftlichen Sozionik, aber ähnlichen populäreren Veröffentlichungen wird nicht so sorgfältig argumentiert. Wenn das Wesen der konkreten Systeme auf ihre Eigenschaft, komplex zu sein, reduziert wird, erscheint es so, als sei das lebende, soziale System vollständig durch ein Surrogat ersetzbar:

    "Zuvor waren wir in unseren Möglichkeiten beschränkt, komplexe Systeme wie ein nationales Wirtschaftssystem... zu untersuchen... Doch mit der Ankunft heutiger Computer können wir in unseren Rechenmaschinen vollständige Surrogate dieser Systeme in Silizium bauen." (Casti, Hervorhebung v. A.S.).

    Wenn festgestellt wird: "Auch Moleküle, Verbände und lebendige Zellen zeigen sich als intelligente und anpassungsfähige Agenten." (Casti), dann werden jegliche Verhaltensqualitätsunterschiede verwischt: Jegliches komplexes Verhalten als "intelligent" bezeichnet, was keinen Raum mehr für eine Spezifik des Menschlichen läßt. Jedoch wäre es inhuman, das Wesen des Menschlichen lediglich in seiner Fähigkeit, komplex zu agieren, d.h. zu "funktionieren", zu sehen.

    "Sozionik als neues Forschungsgebiet im Grenzbereich von Soziologie und Informatik beschäftigt sich damit, Künstliche Gesellschaften zu konstruieren und deren Verhalten zu beobachten." (Braun, Imhof 1999). Glücklicherweise beschränken sich Braun und Imhof an anderer Stelle dieses Textes wenigstens ausdrücklich auf "reduktionistische Sozialtheorien". Wenn Gesellschaften tatsächlich in ihren Wesenseigenschaften vollständig künstlich herstellbar wären, wäre unser menschliches Leben irrelevant.

    Auch die Verwechslung des Agierens (technischer "Agenten") mit bewußtem Handeln gesellschaftlicher Subjekte verwischt die Spezifik und die gesellschaftlich bestimmten Handlungsinteressen der Subjekte:

    "Komplexe Systeme sind oft aus vielen intelligenten Agenten zusammengesetzt, die ... über das ganze System Entscheidungen treffen und handeln." (Casti)

    Im Zusammenhang mit Prognosetechniken betonte auch ein KI-Vertreter:

    "Nicht der Computer entwirft (extrapolativ) das vom Menschen zu prüfende Bild einer künftigen Welt, sondern Menschen innerhalb sozialer Systeme entwerfen aus unterschiedlicher Perspektive Bilder, die vom Computer auf Konsistenz (innere Widerspruchsfreiheit) geprüft werden" (Müller, S. 209). Genauso gilt: Die Menschen innerhalb sozialer Systeme geben Rahmen und Auswahlmöglichkeiten des Agierens technischer (Software-)-Komponenten vor. Einen Unterschied allerdings gibt es: Es kann passieren, daß die Menschen bei Mißachtung ihrer Beschränkungskompetenz den Rahmen der technischen Aktionsfähigkeit unverantwortlich ausweiten und die Technik nicht mehr kontrollieren können. Aber auch das war dann eine bewußt getroffene Wahl von Menschen.

    Neue Kombitechnologien

    Das Abbilden, Simulieren und Manipulieren komplexer Strukturen und Verhaltensweisen erweitert den Handlungsspielraum von Menschen. Dazu gehört auch die Sozionik als Mittel, "technischen Innovation durch das Imitieren von sozialen Mechanismen" (Braun, Imhof) zu erzeugen.

    Es entsteht eine neue Kombitechnologie durch die Verschränkung "der künstlichen Sozialität der Computerwelt und (der) der soziotechnischen Systemgestaltung der Gesellschaft" (Malsch, Florian, Jonas, Schulz-Schaeffer 1996)."

    Dabei beziehen sich die sozionischen Errungenschaften gerade auf jene Ebenen im Menschlichen, die sich auf der Ebene der Technisierbarkeit abspielen, d.h. es sind jene Charakteristika, die NICHT das spezifisch Menschliche verkörpern. Bei einer geeigneten Nutzung der neuen Kombitechniken können diese spezifisch menschlichen Lebensäußerungen von ihnen entlastet werden. Das Suchen von Handelspartnern, die Börsentätigkeit etc. sind ja nur für jene Menschen ein akzeptabler Lebensinhalt, welche die Möglichkeiten des Menschlichen in sich bereits auf dieses Maß reduziert haben.

    Es geschieht jedoch nicht automatisch, daß uns die technische Entwicklung nutzt. "Es ist eine wohlbekannte Tatsache, daß EDV zur Zementierung untragbarer Strukturen führen kann" (Müller). Die Entscheidung darüber, was wir mit der Technik wie erreichen wollen, nehmen uns auch die "intelligenten" Agenten der Technik niemals wirklich ab.

    Braun, H., Imhof, P., Künstliche Gesellschaften, in Internet: http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/co/5219/1.html (1999)
    Casti, J., Das einfache Komplexe, in Internet: http://www.heise.de/tp/deutsch/special/vag/6035/1.html (1996)
    Malsch, T., Arbeitsbereich Technikbewertung und Technikgestaltung. Kolloquium: Sozionik - Crossover zwischen Soziologie und Informatik, in: Internet: http://www-tu-harburg.de/tbg/Deutsch/Lehre/Sozionik-ss-98.html (1998)
    Malsch, T., Florian, M., Jonas, M., Schulz-Schaeffer, I., Sozionik: Expeditionen ins Grenzgebiet zwischen Soziologie und Künstlicher Intelligenz, in: Künstliche Intelligenz IKJ 2/1996, Juni 1996, S. 6-12
    Malsch, T., Die Provokation der "Artificial Societies". Ein programmatischer Versuch über die Frage, warum die Soziologie sich mit den Sozialmetaphern der Verteilten Künstlichen Intelligenz beschäftigen sollte, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 26, Heft 1, Februar 1997, S. 3-21
    Müller, R., A., Selbstorganisation und Verteilte Intelligenz - Eine Forschungsperspektive der Daimler-Benz-AG, in: Balck, H., Kreibich, R., (Hrsg.), Evolutionäre Wege in die Zukunft. Wie lassen sich komplexe Systeme managen? Berlin 1990, S. 191-223

    Müller, H., J., Malsch, T., Editorial zum Workshop "Sozionik – Wie VKI und Soziologie von einander lernen können?" in Internet: http://www.tu-harburg.de/tbg/English/Projekte/Bremertexte/Editorial.html, 1998

    siehe auch: Cyber- und Wissensökonomie statt Kapitalismus?
     
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