Meine Sprache

Stell dir vor, ab heute könnte niemand mehr sprechen, niemand mehr lesen oder schreiben. Wir würden wir miteinander kommunizieren? Nach einer Weile hätten wir bestimmt gelernt uns mit Gesten und Körpersprache zu verständigen und könnten Alltagsdinge wie "Kannst du mir mal die Butter reichen?" oder "Ich bin müde und gehe jetzt nach hause" bestimmt bald wieder sagen. Auch um "Ich liebe dich" zu sagen, braucht man keine Worte. Aber was ist mit langen Gesprächen über Gott und die Welt und das Leben? Kann man komplexe Zusammenhänge ohne Sprache diskutieren?
Sprache verbindet Menschen. Sie ermöglicht es uns, mit anderen Menschen über unsere Gefühle und Wünsche direkt zu sprechen, ohne hoffen zu müssen, dass der Andere unsere nonverbalen Mitteilungen versteht. Aber auch gesprochene Äußerungen führen häufig zu Missverständnissen, weil sie anders verstanden werden können als sie gemeint sind. Sprache ist nie eindeutig, sie lässt immer Interpretationsspielraum.
Sprache verbindet aber nicht nur verschiedene Menschen miteinander, sie verbindet uns auch mit uns selbst. Wer führt nicht regelmäßig Selbstgespräche, egal ob laut oder nur im Kopf, wenn schwere Entscheidungen zu treffen sind? Dann sprechen auf einmal zwei Ichs miteinander und auch sie bedienen sich der Sprache. Wer eigene Tagebucheinträge nach Jahren oder sogar nur nach Tagen wieder liest, nimmt über die geschriebene Sprache Kontakt zu seinem früheren Selbst auf. Dieses Selbst ist schon nach einer kurzen Zeit ein klein wenig fremd, weil man sich verändert hat. Wenn man Dinge liest, die man selbst geschrieben hat, kann man sich erinnern, was die Worte bedeuteten, was man gefühlt hat, als diese Sätze geschrieben wurden. Ein Fremder wird von genau den selben Worten einen ganz anderen Eindruck erhalten, weil er nur eigene Erlebnisse mit dem Geschriebenen verbinden kann. Wir können einem Anderen nie genau erklären, was wir gefühlt oder gedacht haben, weil nur wir uns daran erinnern und das, was wir sagen, genauso verstehen können wie es gemeint ist. Die Begrenztheit der Sprache isoliert uns voneinander.
Trotzdem kann man Nicht-Sprachliches wie Gefühle und Intuitionen in Sprache fassen, um damit umgehen zu können. Ein undeutliches Gefühl im Bauch hilft mir solange nicht weiter, wie ich es nicht benennen kann. Das braucht kein Begriff zu sein, der schon eine Vorbelegung hat. Vielleicht ist es nicht wirklich Eifersucht, sondern eher Hilunk; vielleicht nicht Angst, sondern eine Fliege, die durch die Brust surrt. Erfundene Worte und bunte Bilder beschreiben Gefühle oft besser als die Stimmungswörter, die eine Sprache zu bieten hat. Trotzdem kann man die Sprache verwenden, um Gefühle in Bildern auszudrücken, und die Bilder um Nicht-Sprachliches Sprache werden zu lassen. Diese Darstellung ist immer unvollständig. Das liegt in der Natur ihrer Sache. Und jeder versteht ein sprachliches Bild ein wenig anders, weil jeder sich selbst Bilder bildet. Diese Unvollständigkeit der Darstellung eigener Gefühle führt auch zur Begrenztheit der Sprach bei der Kommunikation. Fakten kann man klar und deutlich ausdrücken, so dass jeder das Gleiche darunter versteht; Gefühle nicht. Man kann sich ihnen nur annähern, den eigenen Gefühlen und denen der Anderen.
Kleine Kinder müssen ihre Muttersprache erst erlernen. Zu fühlen muss niemand lernen, das kann man nur verlernen. Da stellt sich doch die Frage: Ist Sprache im Menschen enthalten oder ist sie etwas Fremdes? Gerade sensible Menschen spüren oft die eigene Unfähigkeit Wünsche und Gefühle richtig auszudrücken. Da ist etwas, tief in einem, das will sprechen, aber es kann nicht. Auch wer mit orthographischen und grammatikalischen Regeln keine Probleme hat und exakt mit den Wörtern umgehen kann, ist manchmal stumm. Weil es manchmal keine Worte gibt, weil die Sätze eigensinnig durch die Finger rinnen.
Manche Menschen können mit Worten Bilder malen, mit der Sprache zaubern und sie zum Klingen bringen. Diese Menschen sind selten. Meistens ist Sprache abgehackt, unmelodisch und unharmonisch. Sie zu bändigen ist ein Kunststück, das nur Wenigen und auch nicht immer gelingt.
Ist unsere Sprache damit dem Leben nicht sehr ähnlich? Beides gehört untrennbar zusammen, auch wenn die glücklichsten Momente im Leben vielleicht die sind, in denen man einfach schweigt.


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