Philosophie in der DDR
(Frank Richter, Freiberg)
Abschnitt 2:
Kann man als Philosoph heute noch Materialist sein?
Da bis in die Gegenwart hinein so furchtbare Dinge über den
Materialismus bzw. über die Materialisten erzählt werden - auf Einzelheiten
komme ich noch zu sprechen -, wollen wir unsere Überlegungen mit der Betrachtung
einer alltäglichen Situation beginnen und danach einige Fragen
stellen.1. Einleitung: Können Materialisten etwas fühlen?
Wir alle kennen die Situation, in der einem Mädchen, einer Dame besonderen
Ranges oder aber der eigenen Ehefrau ein Blumenstrauß überreicht wird. Was geht
da alles so in uns vor! Wir freuen uns, daran gedacht zu haben, wir freuen uns
auf die Reaktion der Beschenkten. Es ist dies ein außerordentlich komplexer
Vorgang, der sich in der Übergabe der Blumen selber keineswegs erschöpft,
sondern von Einstellungen, Gefühlen und vielleicht sogar auch rationellen
Überlegungen begleitet wird: Wir verfolgen dabei bestimmte Absichten, wir wollen
eine Botschaft übermitteln, und schließlich schafft solch ein Blumengruß
möglicherweise eine neue Situation zwischen zwei Partnern bzw. zwischen solchen,
die Partner werden wollen. Ich komme hierauf zu sprechen, weil mich ein mir
eigentlich sympathischer Theologe unlängst in einer Vorlesung mit der
Feststellung überraschte, Materialisten könnten all das, was in unserem Beispiel
einer menschlichen Begegnung geschieht, gar nicht beschreiben oder gar erklären,
bzw. sie müßten ihrem theoretischen Konzept zufolge all dies auf einen Austausch
bzw. eine Übergabe eines materiellen Gegenstandes reduzieren. Ich glaubte meinen
Ohren nicht zu trauen, entsann mich aber dann doch ähnlicher Versuche - etwa bei
Papst Johannes Paul II. -, in denen der Materialismus in eine Reihe mit einer
Art von Lebensführung gebracht wird, die im alltäglichen Sprachgebrauch
tatsächlich oft als „Materialismus" bezeichnet wird. Friedrich Engels hatte sich
schon zu seiner Zeit mit ähnlichen Vorwürfen auseinanderzusetzen, als ein
zeitgenössischer Philosoph einen anderen Philosophen, nämlich Ludwig Feuerbach
vor dem Vorwurf des Materialismus schützen wollte und ihn deshalb einen
Idealisten nannte. Engels setzte dagegen: Fressen, Saufen, Augen- und
Fleischeslust seien nicht für Materialisten typisch, welche durchaus auch Ideale
besitzen könnten, sondern eher für den „braven Bürger". Freilich lehnt dieser
solche Verhaltensweisen, in Katerstimmung, am nächsten Morgen als verwerflich
ab. Insofern hätte ich in unserem Blumenstrauß-Beispiel also eher Bezüge auf
eine irgendwie niedrig geartete Gesinnung (möglicherweise, um die Dame zu
verführen) oder aber - natürlich ökonomisch determinierte - Klasseninteressen
vermutet, also vielleicht die Verführung eines Dienstmädchens durch den
Hausherrn, der Abschluß eines Geschäftes bzw. die Anbahnung einer
"standesgemäßen" Ehe. Sollte es gelingen zu zeigen, daß Blumen schenken nicht
auf solche vulgären Absichten zurückgeführt werden kann, hätte man dann
tatsächlich Argumente gegen den Materialismus in der Hand. - Also, das hätte ich
ja noch verstanden, aber so?
Immerhin, und das war dann meine Konsequenz, könnte man ja von einem solchen
Beispiel ausgehend die ganze Problematik Materialismus/Idealismus noch einmal
aufgreifen - auch wenn oder besser: gerade wenn diese Angelegenheit heute
zuungunsten des Materialismus entschieden zu sein scheint und mit den
verbreiteten Abgesängen auf den Marxismus-Leninismus auch das nunmehr endgültig
letzte Glöckchen für den Materialismus geläutet wird. Insofern werden wir
unseren Blumenstrauß zugunsten anderer Themen bald verlassen müssen - ja, und
nun wollte ich beinahe wieder sagen: die wichtiger sind als jene freundliche
Geste, und damit erneut Wasser auf die Mühlen derjenigen gegeben hätte, die den
Materialisten vorwerfen, für bestimmte wichtige Seiten des Lebens würden sie
sich überhaupt nicht interessieren, eben weil sie sie nicht erklären können.
Ob dieser Vorwurf berechtigt ist oder nicht, wird zu prüfen sein. Dabei
glaube ich schon, daß er uns - und damit beziehe ich an dieser Stelle also
explizit Partei für die der Materialisten - trifft und daß wir im Zusammenhang
mit den Versuchen, die Geschichte des Zusammenhangs von Sozialismus und
Materialismus aufzuarbeiten, auch an dessen weltanschaulichen Grundlagen nicht
vorübergehen können. Es ist wahrscheinlich einer unserer größten Fehler gewesen,
daß „wir" eigentlich immer geglaubt haben, jene Grundlagen müßten außerhalb
jeder Diskussion bleiben. Auch war für viele die Vorstellung unhaltbar, es
könnte innerhalb einer politischen Strömung wie der kommunistischen
Arbeiterbewegung verschiedene, nur in bestimmten Grundsätzen einheitliche
weltanschauliche, materialistische Positionen geben. Die dabei noch gar
nicht einmal so unberechtigte, einseitige Ausrichtung des dialektischen und
historischen Materialismus auf ein Konzept radikaler, in möglichst kurzer Frist
zu vollziehender Weltveränderung hat zu einer Vernachlässigung vieler sozialer
und individueller menschlicher Verhaltensfelder in der
weltanschaulich-theoretischen Reflexion geführt. Selbst wenn einzelne Soziologen
oder Psychologen doch auf solchen Gebieten gearbeitet haben, so war die
allgemeine Wahrnehmung doch auf die bevorzugten Forschungsgebiete konzentriert.
Wenn dann schon die sogenannten Grenzsituationen des menschlichen Lebens wie
Krankheit und Tod erst ziemlich spät Eingang in die philosophische Reflexion in
der DDR gefunden haben, dann offensichtlich deshalb, weil sich die Künstler
dieses Thema nicht ausreden ließen. Wie lange hätten wir dann erst noch auf den
„Blumenstrauß" warten müssen?!
2. Der Sinn des Materialismus früher und heute
Eine wichtige Frage ist aber nun doch, ob wir die Erklärung der Welt
tatsächlich verbessern, wenn wir in der dafür verfügbaren Palette von
Instrumenten weiterhin einen Materialismus für erforderlich halten, oder ob es
nicht mittlerweile andere und bessere Konzepte gibt. Es existieren durchaus
immer noch Überlegungen, die auch eine Weiterentwicklung der Prinzipien des
Materialismus für möglich halten. Man kann aber auch ganz anders an das Thema
herangehen, es völlig verwerfen wollen und alles Gerede über
Materialismus/Idealismus bzw. die Grundfrage der Philosophie für unphilosophisch
halten. Diesen Weg kann und will ich schon deshalb nicht gehen, weil ich
eigentlich Zeit meines „philosophischen" Lebens nicht wenigen Wissenschaftlern
und Studenten zu erklären versucht habe, daß es einen Materialismus gibt, der
nichts mit ideologisch begründeter Abschottung gegenüber anderen
Weltanschauungen zu tun haben muß und der eigener Weiterentwicklung fähig und
immer auch bedürftig ist. Auch wenn sicher die meisten von jenen Hörern heute
kein Interesse an diesem Thema mehr haben, so bleiben vielleicht doch noch
genügend übrig, die ihren weltanschaulichen Werdegang nicht so einfach
abschütteln können und die wissen wollen, woher denn die doch unbestreitbare
Attraktivität des philosophischen Materialismus stammte: War sie wirklich durch
eine ununterbrochene politisch-ideologische Propaganda nur vorgetäuscht oder gab
es doch auch überzeugende Argumente dafür, daß die bisher dominierenden
Weltanschauungen, die Religionen inbegriffen, eigentlich mit ihrem Latein am
Ende sind bzw. zumindest energisch umdenken müßten? Sicher spielten beide
Faktorengruppen eine Rolle, und vielleicht ist es mir möglich, auch ihre
Wechselwirkung sichtbar zu machen: So „dialektisch" es aussehen mag, wenn immer
zwei gegensätzliche Parameter im Spiel sein sollen, und wenn das sowohl-als-auch
wirklich besser ist als das entweder-oder - ein konsequentes dialektisches
Denken muß stets beachten, daß die Gegensätze ineinander übergehen, sich
wechselseitig bedingen, also auch identisch sein können. Dieser Grundsatz
verhindert jede einfache Vergangenheitsbewältigung, die versucht, Positives und
Negatives fein säuberlich voneinander zu trennen (also etwa in der DDR soziale
Errungenschaften auf der einen, wirtschaftliche Ineffizienz auf der anderen
Seite) oder aber die eigenen Mängel mit der Schlechtigkeit des Gegners zu
entschuldigen. Wie gesagt, vielleicht ist der Materialismus gar kein
philosophisches Thema mehr, zumal das auch schon Philosophen lange vor jener
Wende in Ost- und Mitteleuropa gedacht haben, über deren Quellen, Strukturen und
Konsequenzen noch lange geredet werden wird. Materialismus und Idealismus hätten
als produktive philosophische Kategorien längst ausgedient - spätestens seit
Hegel, und was dann mit Marx, Engels und Lenin zur
Materialismus-Idealismus-Alternative, zur sogenannten Grundfrage der
Philosophie, und dann erst recht von deren Nachfolgern auf Tausenden Tonnen von
Papier dargelegt worden sei, wäre zum einen fachlich längst überholt, zum
anderen eben nur politisch-ideologischer Natur gewesen. Wir werden sehen, wie
auch der Berliner Theologe Richard Schröder in die gleiche Kerbe hieb, diesmal
nun aber schon nach bzw. während der Wende. Auch dieser Schlag soll also
heute diejenigen treffen, die schon mit dem Eingeständnis weltweiten Versagens
sich sozialistisch nennender Politik, mit dem Scheitern eines
„real-sozialistischen" Konzeptes und nicht zuletzt mit ganz persönlicher Schuld
und Verantwortung konfrontiert worden sind und es sich dabei schon nicht leicht
machen!? Aber wir werden wohl zugeben müssen, daß Begriffe wie „Sozialismus",
„Kommunismus" oder auch „Linke" eng an ein philosophisches Verständnis gebunden
waren, das wir Materialismus genannt haben. Geraten die ersteren ins Wanken -
was geschieht dann mit dem Materialismus? Kann er von all dem unberührt bleiben?
Vielleicht ist aber jener Zusammenhang gar nicht so eng, und war die Position,
das Materielle sei dem Ideellen über- und vorgeordnet (was immer das bedeuten
soll, wir kommen darauf zurück) wirklich unbedingt nötig, um eine
Sozialismustheorie aufzubauen? Man könnte es sich dann vorstellen, das
Materialismus-Konzept aufzugeben, um auf diese Weise eine Idee, eine Utopie, die
sozialistische nämlich, nicht noch unnötig weiter zu kompromittieren. Dabei wäre
hier wiederum vorauszusetzen, daß eine solche Utopie auch weiterhin möglich und
notwendig ist, da bei allen Vorzügen einer freiheitlich-demokratischen Ordnung
die moderne bürgerliche Gesellschaft eine Lösung der anstehenden globalen
Probleme nicht zu garantieren vermag.
3. Typische Argumente gegen den Materialismus
An dieser Stelle ist es sicher von Vorteil, kurz und knapp die geläufigsten
Argumente gegen den Materialismus vorzustellen bzw. ins Gedächtnis zu rufen:
· Der Materialismus orientiert den Menschen auf (vorrangige) Befriedigung
materieller Bedürfnisse wie Essen, Trinken, Sexualität, Besitz materieller
Güter. So wichtig diese Dinge sein mögen, der Materialismus verfehlt damit das
Wesen des Menschen, welches primär durch Geist (Bewußtsein, Seele, Gott)
bestimmt wird. Insofern ist der Materialismus unmenschlich. · Der
Materialismus kann von seiner theoretischen Grundlage her dem Drang jedes
Menschen, seine endliche irdische Existenz mit dem Unendlichen und Überirdischen
zu verbinden und gerade in dieser Einheit den Sinn seines Lebens zu finden,
nicht entsprechen und diesen nur kritisch und atheistisch reflektieren. Religion
z. B. wird damit als nur historische Erscheinung prinzipiell fehlverstanden.
· Der historische, ökonomische Materialismus überbetont die Rolle
materieller gesellschaftlicher Faktoren wie Produktion, Konsumtion, Eigentum,
Macht, Geld im Geschichtsprozeß, orientiert einseitig auf die Rolle der
Volksmassen und unterbewertet die Bedeutung von Persönlichkeiten, von Idealen,
Weltanschauungen, Utopien usw. · Der Materialismus verführt die
Wissenschaften zum Mechanizismus bzw. zum Reduktionismus bei der Suche nach
letzten, elementaren Bausteinen der Natur, nach letzten Strukturen oder
Gesetzen. Materie im Sinne von Stofflichkeit könne jedoch keinen Erklärungsgrund
für dasjenige abgeben, was die Welt im Innersten zusammenhält. Und versagt
dieses Prinzip schon in den Naturwissenschaften, wie wenig erst wird es der
Komplexität des Menschen gerecht! · Die Vorstellung (z. B. bei Friedrich
Engels), Materialismus sei nichts anderes, als die Welt so zu nehmen wie sie
sich gibt, ist einfach naiv, entspreche nicht der Komplexität und
Subjektbezogenheit menschlicher Erkenntnis und bringe philosophisches Denken auf
das Niveau des Alltagsrealismus herunter. Insofern ist Materialismus das Ende
der Philosophie im buchstäblichen Sinne. · Der Versuch Lenins, Materie aus
ihrer naturwissenschaftlichen Bezogenheit auf Stoff, Masse, Elementarität zu
lösen und sie als außerhalb und unabhängig von den Empfindungen existierende
Realität zu verstehen, nimmt dem Materiebegriff jenen Sinn, der ihm
traditionsgemäß in der Philosophiegeschichte als „Substanz" bzw. als der dem
Geist entgegengesetzten Substanz immer zugedacht war. Auch hiermit hebe sich der
Materialismus also selber auf. · Hegel habe gezeigt, daß eigentliche
Philosophie immer idealistisch sein müsse, da eine denkende Betrachtung von
An-sich-Seiendem eine Unmöglichkeit darstelle. Materialismus ist als Philosophie
damit ausgeschlossen.-
Diese Argumente sind nicht einfach von der Hand zu weisen. Oft haben es sich
philosophische Materialisten mit schroffer Zurückweisung solcher Argumente zu
leicht gemacht, anstatt ihre eigene Konzeption in einer Diskussion hierüber
wirklich weiterzuentwickeln. Vielfach waren Materialisten wirklich
Reduktionisten (und nicht nur die sogenannten Vulgärmaterialisten um Büchner,
Vogt und Moleschott im vergangenen Jahrhundert, sondern auch schon die
französischen Materialisten um Holbach, erst recht viele Naturwissenschaftler
wie Helmholtz und Haeckel - auch wenn sie dem Materialismusbegriff
oftmals skeptisch gegenüberstanden), und offensichtlich hatte auch der
marxistische Materialismus, speziell der von Engels, den Reduktionismus noch
nicht überwunden, wenn er das Materielle letztendlich doch wieder als Inbegriff
des Körperlichen betrachtete. Demgegenüber aber wurde das
Materialismus-Konzept rigoros benutzt, um andere Philosophien zu beurteilen -
gemäß deren Nähe oder Ferne zum Materialismus; es wurde dabei „großzügig"
zwischen dummem und klugem Idealismus unterschieden und es wurden verborgene
materialistische Elemente in letzterem aufgespürt („Kryptomaterialismus"), z. B.
bei Hegel, dessen Konzept einer Objektivität des Geschichtsprozesses ganz dicht
an den historischen Materialismus herangekommen sei. Da die Engelssche
Vorstellung vom Materialismus („Die Welt so nehmen wie sie ist") kaum vom
alltäglichen bzw. wissenschaftlichen Realismus („Es gibt eine
subjektunabhängige, abbildbare Außenwelt") abgegrenzt werden kann, gelang es
scheinbar sehr leicht, eine Fülle von Wissenschaftlern in das Lager des
Materialismus zu ziehen. Sträubten sich diese, die Frage nach dem Primat der
Materie konsequent oder überhaupt zu stellen, konnte die Bewertung als
"materialistisch" über die Konstrukte „spontaner" bzw. „naturwissenschaftlicher"
Materialismus dennoch sichergestellt werden. Es gab aber auch Autoren, die aus
dem „Sieg des Sozialismus im Weltmaßstab" die Richtigkeit des philosophischen
Materialismus wie dessen Unantastbarkeit herleiteten, quasi nach dem
Praxiskriterium. Damit war ein Punkt erreicht, wo philosophische Diskussion ihr
Ende fand. Leider sind in diesem Sog theoretischen
Alleinvertretungsanspruches vielfach jene Momente übertönt worden, die die
progressive Rolle und Leistung des Materialismus in der Geschichte der
Menschheit ausgemacht haben: Die Orientierung auf die unbestreitbare Rolle
materieller Bedürfnisse im menschlichen Leben (was natürlich für diejenigen
besonders wichtig war, die damit Probleme hatten), die Forderung nach
Selbstverwirklichung des Menschen hier auf Erden, die Rolle der Völker und
Massen, die Bedeutung der Arbeit, ökonomischer Beziehungen und von objektiven
Gesetzen für die Geschichtsprozeß, die Suche nach dem Atomaren und Elementaren
in der Natur und in den Wissenschaften, die erkenntnistheoretische Bindung an
den gesunden, realistischen Menschenverstand. Der Materialismus stand so
eigentlich immer auf der Seite des Fortschritts, der Aufklärung, der Vernunft,
und er wollte dies im Sinne der Marx-Thesen über Feuerbach nicht nur in passiv
bleibender Interpretation, sondern als revolutionäre Aktion, als Umwälzung all
jener reaktionären Verhältnisse, die von den verschiedensten
religiös-idealistischen Weltanschauungen zumeist verteidigt wurden. Damit schien
also auch der Idealismus - zumindest im Grundsätzlichen - als philosophischer
Gegner fixiert und jeder künftige Kampf als Nullsummenspiel bestimmt: Der Gewinn
des einen ist der Verlust des anderen; „wenn dich der Gegner lobt, hast du einen
Fehler gemacht".- Die Parallelisierung der weltanschaulichen und der politischen
Kämpfe und ihre Identifizierung mit Klassenauseinandersetzungen über die
Geschichte hinweg bis in die Gegenwart hinein förderte und forderte ein solches
Verständnis von Antagonismus und Erkenntnis-fortschritt, in dem eigene Fehler
und Schwächen allzu leicht übersehen werden konnten. Daß die andere Seite da
wenig zurückstand und bezüglich Diskussionsbereitschaft und Toleranz auch nur
wenig Beispielhaftes zeigt, hätte nicht als Ansporn zu eigenem solchem Tun
dienen dürfen - wo wir uns doch in allen Dingen so überlegen wähnten.
Aber gerade dieser Wahn machte es praktisch unmöglich, zwei Aspekte zu
erkennen bzw. zum strukturbestimmenden Moment jeder Verknüpfung von politischer
Partei und philosophischer Wissenschaft zu machen: - Das Auftreten
unorthodoxer marxistischer Theorieansätze insbesondere im Westen (etwa Gramsci,
Lukács, Bloch oder die kritische Theorie der Frankfurter Schule) wäre eine
Chance gewesen, den Marxismus tatsächlich als lebendige dialektische Denkform zu
begreifen, deren Inhalt vielfältig sein und sehr flexibel auf neue Bedingungen
hin transformiert werden konnte. Das hätte aber erfordert, wenigstens teilweise
die dort entwickelten Kritiken am politischen, ökonomischen und ideologischen
System des realen Sozialismus zu akzeptieren oder wenigstens darüber einen
offenen Dialog zu führen. Dafür aber gab es keine Mechanismen, sondern jede
Kritik galt automatisch als sozialismusfeindlich und unmarxistisch zugleich.
Diese Situation hat dazu geführt, daß heute eine Diskussion darüber geführt
werden muß, was wir nun eigentlich unter „Marxismus" verstehen wollen bzw.
können, oder ob wir uns nicht doch auch gleich von diesem Ismus trennen sollten
- was ja wiederum nicht bedeuten muß, daß man sich dabei vollständig von den
Lehren von Marx und Engels verabschiedet. Aber auch die Theorie von Marx selber
muß kritisch beleuchtet werden, wenn so etwas wie Marxismus Bestand haben will.
- Sicher sind ernsthafte Zweifel darüber angebracht, ob und inwiefern
die bürgerliche Gesellschaft ihrem eigenen Anspruch nach weltanschaulicher
Pluralität gerecht werden kann. Orthodoxe marxistische Kritik („Es handelt sich
letztendlich doch immer nur um bürgerliche Ideologie") scheint sich da mit der
der Postmodernen, z B. bei Lyotard, zu treffen, welche nur einen
„oberflächlichen Pluralismus bei unverändertem Grundkonsens" konstatieren kann.
Aber - offener als die real-sozialistischen Gesellschaften ist diese bürgerliche
Gesellschaft doch, und daß sich eine solche Gesellschaft vor einer solchen
Ideologie schützen will und muß, die sie in eine „geschlossene Gesellschaft"
verwandeln würde, gelänge es ihr sich durchzusetzen, das konnten und wollten wir
nicht erkennen und akzeptieren. Es mangelte uns an einem Grundverständnis von
Pluralität selbst innerhalb der Philosophie, und von der politischen Praxis
waren in jener Hinsicht natürlich auch keine Impulse zu erwarten. Die heute in
der zu beobachtenden Diskussionen um das Theorieverständnis in einer
sozialistischen Partei zeigen, wie uns jenes Erbe noch anhängt.-
4. Aber ganz überholt ist der Materialismus vielleicht doch noch nicht
Dennoch, die moderne oder wie man will: postmoderne bzw. gar schon wieder
post-postmoderne bürgerliche Gesellschaft hat die globalen Probleme (zu deren
Bewältigung der Sozialismus angetreten war) nicht lösen können, und es ist auch
nicht abzusehen, wie sie sie mit den vorhandenen Mechanismen würde lösen können.
Ernstzunehmende Forderungen nach einem neuen Denken münden letztlich immer in
solche nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung, und marktorientierte Prinzipien
allein können diese nicht schaffen. Auch ihre Einbindung in einen sozialen und
ökologischen Rahmen liefert heute bestenfalls lokale Lösungen; ansonsten geht
die Schere zwischen entwickelten und unterentwickelten Ländern und Regionen
immer weiter auf. Das ist alles bekannt und muß hier nicht weiter erläutert
werden, zumal die „Motzkis" sowieso nicht zu meinen Lesern zählen werden. Für
mich sind an dieser Stelle aber zwei Fragen ganz besonders interessant: 1.
Benötigt die Menschheit einen neuen geistigen Entwurf zur Bewältigung dieser
Existenzkrise und welche Rolle könnte dabei die marxistische Sozialismusidee,
nun freilich befreit von allen realsozialistischen Deformationen und
Reduktionismen, spielen? Benötigen wir eine neue Utopie oder sind es vielleicht
gerade die Utopien, die großen Erzählungen, welche Menschen dazu verleiten, mit
der Erde Schicksal zu spielen und so die Menschheit unzumutbaren Risiken
auszusetzen - so wie es Hans Jonas betonte? 2. Kann ein Materialismus zur
Beantwortung dieser ersten Frage beitragen - entweder als weltanschauliches
„Fundament" einer solchen Utopie, oder aber als ein Beweisgrund dafür, daß wir
einen völlig neuen Umgang mit Utopien anstreben und entwickeln müssen: Utopie
als „kein Ort", eben als nicht zu Verwirklichendes zu begreifen und dennoch
solchen Ideen eine praktische Bedeutung nicht abzusprechen?
J. Habermas hat solches selbst der sozialistischen Idee heute und künftig
zugestanden. Aber von „Fundamenten" u. ä. wird wohl kaum noch die Rede sein
können; hier kommen wissenschaftstheoretische Aspekte ins Spiel, die
insbesondere dann auf Philosophie angewendet werden müssen, wenn sich diese als
Wissenschaft versteht. „Marxistische" Philosophie hat sich - im Gegensatz zu den
meisten anderen Philosophien - so verstanden, aber dieses Selbstverständnis auf
der Grundlage des bis in die Gegenwart hinein in den Natur- und
Gesellschaftswissenschaften gültigen Wissenschaftsverständnisses dogmatisiert:
Wissenschaft sei die höchste Form der Erkenntnis, sie liefert objektive
Wahrheiten, die kumulationsfähig sind und die die Praxis in Wirtschaft und
Politik in Technologien verwandeln. Philosophie begründe nicht nur die
Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern ist selbst solche und zwar
fundamentalen Charakters. Man kann den Fundamenten nicht widerstreben wollen,
auf denen man selber steht. Die Kritik von Robert Havemann und anderen,
damit werde materialistische Philosophie zu einem absurden Hort ewiger
Wahrheiten, also zum Dogma, wurde natürlich abgelehnt: Zwar sollte sie nicht
allein aus solchen Wahrheiten bestehen, aber eine ganze Menge unrevidierbarer
philosophischer Grundpositionen sollte es schon geben, und das Geschäft des
Philosophen sollte es nun sein, über den Weg ihrer Verknüpfung mit
einzelwissenschaftlichen Theorien bzw. Hypothesen (also mit solchen aus Physik,
Biologie usw.) weltanschaulich, methodologisch, heuristisch und ideologisch
wirksam zu werden. Zu diesen Grundpositionen sollte natürlich das Primat der
Materie gehören, und damit war der Kreis geschlossen. Moderne
wissenschaftstheoretische Konzepte räumen schon nicht einmal mehr der
Wissenschaft eine solche Sonderstellung ein, geschweige denn der Philosophie.
Wenn überhaupt, so ist Philosophie eine Form der Erkenntnis - mit allen Vorzügen
und Nachteilen. Dabei scheint zusätzlich ein Wandel im Wissenschaftsverständnis
eingetreten zu sein: Hat Wissenschaft bisher ihren monistischen Anspruch auf
Wahrheit und Exaktheit mit Verlusten an Komplexität und Vielfalt bezahlt, so
könnte nun ein auf Modellvielfalt, Komplexität, Selbstorganisation und
Autopoiese gerichtetes wissenschaftliches Denken den vielfältigen Problemen und
Risiken technologischen Denkens und Handelns besser gerecht werden. Aber absolut
sichere Fundamente menschlicher Tätigkeit gibt es also auch von der Wissenschaft
her nicht mehr, und damit scheint wieder mehr Platz geworden zu sein für
religiöse Weltbegründungen - wobei freilich die Existenz einer ökumenischen
Vielfalt solcher Weltanschauungen auch diesen Tatbestand sofort wieder
relativiert. Können sich materialistische Philosophen in eine solche
Situation hineinversetzen und in ihr leben und arbeiten? Schon geraume Zeit vor
der Wende habe ich versucht, über Publikationen und wissenschaftliche Kolloquien
an der damaligen Sektion für Marxismus-Leninismus der Bergakademie Freiberg
Möglichkeiten einer derartigen philosophischen Neubestimmung des philosophischen
Materialismus zu orten. Während der „technische Materialismus" des französischen
Philosophen Bachelard noch ganz auf die experimentelle Situation der
Physik zugeschnitten war, nutzten wir die immer stärker ins Blickfeld
philosophischer Diskussion rückenden Merkmale technischen Wissens, um von hier
aus die in den Ingenieurwissenschaften längst übliche Modellvielfalt als
Grundprinzip nicht nur einzelwissenschaftlichen, sondern auch philosophischen
Denkens verstehen zu lernen. Die dabei gemachten Erfahrungen waren zwiespältig.
Nur relativ wenige Kollegen konnten sich mit dem Ansatz identifizieren. Es
dominierte die Angst vor einer Aufweichung des Wissenschafts- und
Materialismusverständnisses, und schon gar nicht gelang es, Kollegen aus den
anderen Gebieten des Marxismus-Leninismus, also der Geschichte der
Arbeiterbewegung, der politischen Ökonomie und des wissenschaftlichen
Sozialismus bzw. Kommunismus, zu einer Zusammenarbeit zu bewegen - wobei
eigentlich die Tragödie der ständigen Umbenennungen des wissenschaftlichen
Sozialismus in Kommunismus und umgekehrt ein elementares Verständnis von
Modellvielfalt hätte mit sich bringen können. Aber auch hier wurden
„Provokationen" wie die aus Stefan Heims „König David Bericht" nicht
verarbeitet, sondern immer wieder nur verdrängt. Aber man konnte immerhin an
einer Einrichtung des marxistisch-leninistischen Grundlagenstudiums über solche
Fragen diskutieren - was aber wohl auch nicht an jeder Hochschule möglich war.
Da mußten verschiedene Bedingungen zusammentreffen; am besten war es, man hatte
die Funktion eines Sektionsdirektors oder Prorektors inne und konnte so die
ganze Sache auf seine eigene Kappe nehmen.
5. Versuchen wir einen neuen Anlauf?!
Meine Vorstellung und Hoffnung, durch langfristige und geduldige Arbeit in
einer solchen Richtung Potenzen marxistischen Denkens wieder stärker fruchtbar
machen zu können, sind durch die Ereignisse der Wende und die der Zeit danach
zunächst einmal „widerlegt" worden. Gleichzeitig ergab sich die Möglichkeit,
intensiver als zuvor die eigenen Überlegungen mit denen zu vergleichen, die in
ähnlicher Richtung in der Bundesrepublik angestellt worden waren. Umfang, Breite
und Tiefe solcher Überlegungen etwa bei H. J. Sandkühler oder bei H. Stachowiak
zu Modellvielfalt hatten mich schon früher beeindruckt; in einer Reihe von
Rezensionen hatte ich dabei die Gelegenheit, Stellung zu beziehen und da und
dort eigene Überlegungen einzubringen. Natürlich unterschieden diese sich
gegenüber den besprochenen Positionen bzw. Autoren (z. B. Popper, Stegmüller,
Vollmer, Anderson, Krüger, Wetzel u. a.) immer in der Hinsicht, daß es mir um
eine Formänderung des marxistischen Materialismusbildes ging, d. h. um das
Lebendig-Halten von Marxismus und Materialismus. Daß auch heute die Frage
nach dem Marxismus interessant und wichtig ist, dürfte unbestritten sein. Auch
nichtmarxistische Geistes- und Sozialwissenschaftler haben zum einen ökonomische
und soziologische Gedanken von Marx längst im Sinne der Dialektik für sich
„aufgehoben": Sie lernten von ihm, und sie polemisierten gegen ihn, wo sie es
für nötig halten, und sie geben das in der Regel auch ganz „unverblümt"
zu. Inwiefern auch heute noch ein „Marxismus" denkbar ist, der sich dem
Gesamtwerk von Marx verpflichtet weiß und dann auch die mit diesem Werk
verbundenen politischen Zielsetzungen zu tragen bereit ist, dürfte eine noch
längst nicht geklärte Frage sein. Es wird immer Streit darüber geben, wann eine
bestimmte Abweichung, Weiterentwicklung, Problemverschiebung u.ä. von einem
bestimmten Ismus noch als zu jenem gehörig betrachtet werden kann. Kommen dann
noch theoretische Alleinvertretungsansprüche hinzu - und in dieser Hinsicht
haben sich Linke und Marxisten immer unrühmlich ausgezeichnet, dann sind
Ausgrenzungen und Verurteilungen an der Tagesordnung. Da wäre es also besser,
man könnte auf solche - zumal personengebundene - Etikettierungen verzichten und
sich auf sachliche Fragen konzentrieren. Während also Marx generell jemand
bleibt, der uns auch heute noch etwas zu sagen hat, ist die Sachlage
hinsichtlich des Materialismus eine ganz andere. Entsprechend der anfangs
geschilderten Polemik taucht dieser Begriff in der „Weltliteratur" praktisch nur
ablehnend-kritisch auf oder aber er wird ganz durch „Realismus" ersetzt (etwa in
der sogenannten evolutionären Erkenntnistheorie Vollmers als „hypothetischer
Realismus" bzw. bei Putnam als „interner Realismus"). Ideengeschichtlich ist im
Marxismus der Materialismusbegriff eher an Engels und Lenin gebunden denn an
Marx. Die Kennzeichnung Friedrich Engels’ durch Willi Brandt als „liebenswerter
Vereinfacher" und der Vorwurf einer unphilosophischen Ideologisierung des
Materialismus durch Lenin, insbesondere in „Materialismus und
Empiriokritizismus", treffen das Materialismusverständnis im
Marxismus-Leninismus, nicht so sehr Marx selber. Läßt sich „Materialismus"
rechtfertigen bzw. so rekonstruieren, daß er modernen Ansprüchen philosophischen
und wissenschaftlichen Denkens genügen kann? Das hängt u.a. von der Antwort auf
folgende Fragen ab: 1. Kann philosophischer Materialismus seinen
Alleinvertretungsanspruch so weit zurücknehmen, daß er sich als Mitglied und
Partner einer Mannigfaltigkeit von Weltanschauungen begreift und ein Verhältnis
von Geben und Nehmen akzeptieren erlernt - ohne sich dabei selbst aufgebend,
aber dabei einen völlig neuen Sinn von Identität gewinnend? Vielleicht ist es
das, was F. Engels - sprachlich aber ganz sicher zu schwach - als ständige
Formänderung des Materialismus verstehen wollte. 2. Läßt sich ein
Materialismusbegriff so formulieren, daß er - die Existenz einer Beziehung von
Geist und Materie einmal vorausgesetzt - auch dem „Geist" bzw. dem „Bewußtsein"
entsprechenden Respekt erweist, ohne sich dabei einfach auf „idealistische"
Positionen zu begeben und sie für „dialektisch-materialistische" zu erklären?
3. Werden sich die Begriffe Materialismus und Idealismus überhaupt noch als
brauchbar erweisen, um die interne philosophische Diskussion zu führen und dabei
gleichzeitig die globalen Probleme der Menschheit zu benennen und dann
vielleicht auch lösen zu helfen? Dabei hieße hier „brauchbar" vor allem, ein
Gespräch zwischen „Andersdenkenden" zu ermöglichen. 4. Lohnt sich eine
solche Mühe auch dann, wenn wir uns der postmodernen Kritik an der Moderne
anschließen würden, absolute, letzte Wahrheiten seien überhaupt nicht mehr zu
erwarten? Oder aber ist diese Kritik nur für die theoretische Philosophie (im
Sinne von Kants reiner Vernunft) zutreffend und nicht generell für
Weltanschauung, die dann vergleichbar mit Kants praktischer Vernunft doch für
endgültige Antworten zu sorgen hat? In dem Fall müßte sich materialistisches
Philosophieren aber der Problematik theoretische/praktische Philosophie erst
einmal konsequent stellen.- Zu all diesen Fragen habe ich in „Philosophie in
der Krise" (Dietz-Verlag Berlin 1991) „meine" Antworten zu geben versucht. Diese
zeichnen insgesamt für den Materialismus ein optimistisches Bild - ein
vielleicht zu optimistisches. Da ist - trotz Beginn der Arbeit am Manuskript in
der Vorwendezeit und nachfolgender teilweiser Überarbeitung aus Sicht der
Wendezeit in ihren verschiedenen Phasen sicher noch zu viel Kontinuität im
Spiel. Es wären deshalb moderne bzw. postmoderne theoretische Erörterungen mit
einem Begriff von Materialismus zu konfrontieren, der neuartige Aspekte aushält
und mitträgt. Das beginnt mit dem Strukturalismuskonzept, das für einen
Materiebegriff, der auf Substanz orientiert, keinen Raum mehr zu bieten scheint.
Zu fragen wäre also, ob das Verlassen eines aufs Stoffliche, Körperliche
orientierten Materiebegriffs den Sinn eines solchen Begriffs überhaupt aufhebt
bzw. warum jene Bedeutung dem Materiebegriff unbedingt zugesprochen werden soll.
Die „Geschichte des Materialismus" von Friedrich Lange ist hier ebenso zu
berücksichtigen wie der Versuch Lenins, diese Bindung aufzuheben. Das ist
fortzusetzen mit der erkenntnistheoretischen Frage, inwieweit eine solche, dann
als schlechtweg subjektunabhängig zu bestimmende Materie Gegenstand der
Erkenntnis sein kann? Die Kantsche Frage nach dem Ding an sich und seiner
Erkennbarkeit kann auch heute noch als unbeantwortet aufgefaßt werden; auch wäre
zu überlegen, ob sie überhaupt richtig gestellt ist. Sie ist ja in das
klassische Wissenschaftsverständnis eingeordnet und kritisiert dieses unter
Verweis auf die Existenz einer Objekt-Subjekt-Dialektik der Erkenntnis, welche
selber wiederum problematisch ist. Konzepte wie das der Autopoiese
radikalisieren weiter und stellen selbst eine solche Beziehung in Frage. Davon
wird aber dann auch die Realismus-Problematik betroffen. Mit M. Wetzel wäre u.a.
hier Hegel hinsichtlich verschiedener möglicher Stellungen des Bewußtseins zur
Objektivität seiner Gegenstände zu befragen - was wiederum Konsequenzen für die
Beziehungen von Wissenschaft, Wissenschaftstheorie und philosophischer
Erkenntnistheorie haben sollte. Es ist also ein Unterschied, ob ein Physiker
oder ein Philosoph über „Objekte" und „Subjekte" spricht und über welche
Beziehung von Objekt und Subjekt sie dabei nachdenken - etwa im Alltag, in der
Wissenschaft, in der Kunst, in der Moral o. a. Gleichzeitig ist die Beziehung
von Instrumentalismus und Realismus zu erörtern, und in diesen Zusammenhang wäre
ein dialektischer Materiebegriff einzuordnen. Daß Realismus und
Materialismus nicht dasselbe sind, liegt zum einen daran, daß der Realismus
nicht unbedingt verpflichtet ist, dem Begriff der Realität eine ontologische
Bestimmung zu geben (etwa im Sinne von Substanz, Sein als Seiendem,
Körperhaftigkeit, Materie o.ä.), zum anderen kann er auf die Frage nach dem
Primat im ontologischen Sinn verzichten (Was war früher da? Wer hat was
geschaffen?) Die zwei Aspekte der Grundfrage der Philosophie bei Engels waren
mittlerweile von Autoren wie Alfred Kosing zu vier Aspekten ausgeweitet worden.
Inwiefern tatsächlich davon gesprochen werden kann, daß die Materie in
zeitlicher, genetischer, struktureller und erkenntnistheoretischer Hinsicht dem
Bewußtsein gegenüber primär ist und ob bzw. wie in diesen Fragenkreis auch die
Fragen und Antworten von Religionen bzw. des sogenannten objektiven Idealismus
integriert werden können, ist zu prüfen. Gelingt letzteres nicht, so würde ein
philosophischer Materialismus viel an weltanschaulicher Bedeutung verlieren: Das
(oftmals religiöse) Streben des Individuums, im Überindividuellen und
Übermenschlichen einen Halt zu finden, ist ja wohl mehr als nur eine falsche
Widerspiegelung der Wirklichkeit bzw. Ausdruck einer „falschen Wirklichkeit",
die den Menschen daran hindert, sich hier auf Erden selbst zu verwirklichen. Der
religiöse Glaube ist im Leben von Menschen eine "reale Kraft", die zu einem
sinnvolleren Leben (und oft auch zu einem sanfteren Sterben) verhelfen kann.
Sollten sogar die Materialisten eines Tages den Glauben an eine Zeit verlieren,
in der solche den Menschen deformierenden Kräfte nicht mehr existieren, so
hätten sie sich also doch auf Religion als zum Wesen des Menschen gehörendes
Faktum einzurichten. (Feuerbach und andere ließen dann grüßen!) Es wäre also
eine materialistische Theorie von Gott und Religion zu entwerfen oder wenigstens
vorerst ein Ansatz dafür zu finden, der mehr sein sollte als eine sozial- bzw.
individualpsychologische Entlarvung der Gottesvorstellung. Natürlich müßte man
deswegen nicht religiös werden. All diese Fragen kann man m. E. heute generell
noch nicht und schon gar nicht auf wenigen Seiten beantworten. Im
Folgenden wird deshalb erst einmal etwas zur Geschichte des Materialismus,
speziell im Marxismus selber, gesagt werden. Ich beende diese Gedanken mit
einer Hypothese: Die Debatte um Materialismus und Idealismus bleibt zumindest
für das Alltagsbewußtsein und die philosophische Debatte in den vormaligen wie
heutigen realsozialistischen Ländern interessant, wenn sie denn schon in den
"aufgeklärteren" Sphären dieser Welt vorbei sein soll. Dabei verläuft diese
Debatte auf zwei Ebenen. In der ersten stehen sich Materialismus und Idealismus
als zwei Prinzipien, als zwei Denkmuster, gegenüber, die sich in jeder einzelnen
Philosophie wechselseitig beeinflussen und in ihrer Proportionierung die
Eigenheit der jeweiligen Philosophie ausmachen. In der anderen Ebene
differenzieren sich beide Prinzipien unter bestimmten historischen Bedingungen
als eigenständige philosophische Richtungen, Strömungen und Schulen aus, wobei
die jeweilige Realisierung des entsprechenden Prinzips unterschiedlich scharf
ausfallen kann. Von Zeit zu Zeit treten dann immer wieder Vermittlungsvorschläge
auf - wie die Philosophien Kants, Hegels oder von Marx, die sich dann zumeist
auch als generelle Überwindung des Gegensatzes von Materialismus und Idealismus
begreifen. Offensichtlich kann man jenen Gegensatz auf verschiedene Weise
aufzuheben suchen, was von einer metatheoretischen Ebene aus gesehen als Modellvielfalt
erscheint. Ob sich eines dieser Modelle zugleich als jene metatheoretische
"Über-Sicht" für alle Modelle vorkommen und damit in die Rolle des Richters über
alles und jeden lancieren darf oder ob sich das schon aus rein
wissenschaftslogischen Gründen verbieten muß, wird ein ewiger Streitpunkt
bleiben - weil noch kein Streit auf Erden allein mit logischen Argumenten
beendet worden ist. Insofern könnte auch in Zukunft die Grundfrage der
Philosophie bzw. eine historisch aktuelle Konkretisierung dieser Frage eine
mögliche Folie der Philosophie-Systematik wie -geschichtsschreibung sein,
bleiben und werden.
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