Umrisse einer konkreten Utopie (für das Heftprojekt (neu seit dem 04.07.05))
"Echter Realismus zieht in seine Betrachtungen nicht nur das ein, was deutlich sichtbar ist, sondern auch das, was als Antwort auf unabdingbare Notwendigkeiten im Schoße der Gesellschaft erst heranwächst." (Jungk 1990: 14) Jede Wunschvorstellung für eine gute Zukunft betont erst einmal die konkreten Momente des Lebens, die jeder für sich als wichtig ansieht. Dem einen Menschen geht es nach dem Verlust des Arbeitsplatzes darum, wieder eine berufliche Zukunft zu finden, ein anderer sucht nach Erlebnissen unzerstörter Natur und dem dritten wiederum geht es vor allem darum, mehr Zeit für seine Hobbies zu haben. Ökonomie, Ökologie und Freizeitgestaltung sind typische Themen, denen man auch leicht ansieht, dass sie miteinander zu tun haben. Ein stressiger Job braucht einen Ausgleich im Urlaub. Die tägliche Arbeit trägt aber oft zur Naturzerstörung bei, die wir zur Erholung wieder brauchen... Ein Teufelskreis. Dieser Teufelskreis ist ohne Utopien nicht mehr zu lösen. Ein heute noch utopischer Gedanke sollte jedoch in allen drei Bedürfnisbereichen etwas verbessern: Wir könnten aussteigen aus der Arbeitswelt, in der wir nach Maßgabe der Gewinnmaximierung (Kapitalverwertung) produzieren und stattdessen untereinander abstimmen, was wir wirklich brauchen, und wie wir das dann am sinnvollsten erzeugen. Auch hier hängen Ökologie und Ökonomie, die produktiven Tätigkeiten und die Muße weiterhin eng zusammen und sind voneinander abhängig. Es ist nicht sinnvoll, einen Bereich aus den anderen auszukoppeln und nur für diesen eine alternative Vorstellung zu entwickeln. Sobald wir einen Faktor diskutieren, merken wir, wie er von den anderen abhängt. Befreite kreative Menschlichkeit Eine herrschaftsfreie Wirtschaft bedeutet, dass auch im Mittelpunkt der wirtschaftlichen Prozesse die Menschen selbstbestimmt agieren: Ihre Bedürfnisse sind zentral. Ausgehend vom Bedürfnis nach individueller Selbstentfaltung entscheidet jede Person frei über ihre eigene Beteiligung an sich selbst organisierenden Kooperationen.
Wohl alle Menschen haben auch von sich aus das Bedürfnis, dass die Lebensgrundlagen auch für zukünftige Generationen nicht zerstört werden. Insofern muss Ökologie nicht gegen Ökonomie ausgespielt werden. In einer den menschlichen Bedürfnissen unterworfenen Ökonomie werden die ökologischen Zusammenhänge selbstverständlich enthalten sein, weil die beteiligten Menschen selbst dies - aus eigenen Interessen heraus - einarbeiten.
Dagegen hilft aber keine Herrschaft, auch keine sanfte, sondern nur "Ordnung ohne Herrschaft". Oft wird daran gezweifelt, dass das möglich ist. In mehreren Bereichen werden wir sehen, welche Erfahrungen es damit gibt. Die Frage ist: Wie können Menschen herrschaftsfrei miteinander umgehen, wenn sie gemeinsam Ziele verfolgen, wenn sie gemeinsam die Grundlagen ihres Lebens aufrechterhalten, wenn sie gemeinsam produzieren. Vom Individuum her gesehen, gehen wir dabei davon aus, dass sich jedes Individuum nicht wirklich auf Kosten anderer Individuen erhalten, weiter entwickeln und entfalten kann. Alles, was ich gegen andere, gegen die Natur etc. erreiche, schadet mir letztlich selbst. Ich kann mich erst wirklich entfalten, wenn die anderen es auch können und umgekehrt... Vom Gemeinsamen her gesehen, ist eine herrschaftsfreie Gemeinsamkeit durch Prinzipien kollektiver Selbstorganisierung, die vielerlei Mittel der Organisierung nutzt, notwendig. Politisch entspricht die Realisierung dieser Prinzipien der sog. "Graswurzel-Demokratie".
Wiedereinbettung des Ökonomischen ins Gesellschaftliche In diesem Heft geht es vor allem um Wirtschaft. Das bedeutet aber nicht, dass wir davon ausgehen, dass die Wirtschaft immer der wichtigste Lebensbereich sein muss. Natürlich müssen die Menschen erst mal essen können, sich kleiden, sich behausen usw. (wie es Karl Marx einst sehr deutlich formulierte). Die Frage der Ernährung wird in diesem Heftbearbeitet. Schon im Bereich dieser Basis des menschlichen Lebens muss viel verändert werden - aber dabei wird sich auch die Rolle dieser Basis verändern: sie muss nicht mehr das ganze Leben aufsaugen, es beherrschen. Die neoliberal-kapitalistische Wirtschaft saugt immer mehr Lebenskraft in sich auf, statt zu ihrer Entfaltung beizutragen. Sie lässt nur jene Bedürfnisse zu "Bedarfen" werden, die zahlungskräftig sind (diese Begriffsunterscheidung stammt aus der offiziellen Wirtschaftslehre). Und am schlimmsten: Sie erzeugt Bedarfe, die es als menschliche Bedürfnisse gar nicht oder nur in anderer Form geben würde. Auf diese Weise erzeugt sie Knappheiten, für die sie sich als einzige Lösungsform darstellt. Wenn wir dem die Behauptung "Eine andere Welt ist möglich" entgegen stellen, geht es nicht nur darum, eine andere Wirtschaft zu entwickeln, sondern auch die Rolle der Wirtschaft in der Gesellschaft nicht mehr als die allein bestimmende vorauszusetzen. Dies führt letztlich zu einer "Nach-ökonomische Gesellschaftsformation" (vgl. Schlemm 1999: 73). Dezentral-vernetzte Strukturen Kein Mensch und keine Menschengruppe existiert isoliert von den anderen - als Menschheit bilden wir ein Ganzes, das mehr ist als die Summe seiner Einzelteile. Aber das Ganze muss sich uns nicht als etwas Fremdes entgegenstellen. Herrschaft beruht oft darauf, dass die Existenz und Entwicklung des Ganzen durch zentrale oder anonym-marktmäßige "Steuerungsinstanzen" geregelt werden soll. Die Herrschaft dieser Instanzen erscheint dann als natürliche Notwendigkeit. Aber auch hier behaupten wir: "Eine andere, eine herrschaftsinstanzenfreie Welt ist möglich." Unsere Vorstellung bezüglich der Organisationsstrukturen, die das ermöglichen, geht von dem Vorrang der kleinen Einheiten aus (Individuen, Gruppen, Regionen), aus deren Bedürfnis-, Ressourcen- und Fähigkeitspotential heraus sie Freie Kooperationen bilden, die dann immer weitmaschiger alle Einheiten miteinander vernetzen. Besonders aus der ökologischen Systemforschung (z. B. bei Frederic Vester) ist bekannt, dass solche Strukturen auch typisch für die Entfaltung von Komplexität unter ökologischen Gesichtspunkten sind. Gerade bei der Energieversorgung, der Entsorgung und der Landwirtschaft ist diese dezentral-vernetzte Struktur wohl die einzig ökologisch angemessene. Hier scheiterte die Realisierung solcher Strukturen bisher weniger an technischen Lösungen als an polit-ökonomischen Machtverhältnissen. Für die materielle Produktion (mit hoher Produktivität) jedoch schien bis in die 80er Jahre hinein ein technischer Sachzwang nach immer mehr Zentralität zu herrschen - was sich aber derzeit rasch verändert). Ein Beispiel, wie dezentral-vernetzte, sich selbst organisierende Produktionsstrukturen den herrschaftsförmig organisierten sogar überlegen sind, sehen wir in der Freien Softwareproduktion. Ökologisch verträgliche, humane und produktive technische Mittel Gerade weil bisher hochproduktive technische Prozesse scheinbar immer mehr Steuerungsmacht erforderten, und dabei ökologische Prinzipien immer mehr missachtet wurden, schien es bisher so, als müssten wir auf sie verzichten. Beide Probleme können aber inzwischen auch anders gelöst werden: Gerade die komplexesten Techniklösungen beruhen weder in der materiellen noch in der informationellen Produktion nicht mehr auf Zentralisierung, sondern auf der Vernetzung von dezentralen, sich selbst organisierender Einheiten. Diese Selbstorganisierung von den Einheiten her ermöglicht auch die Integration aller Tätigkeit mit ökologischen Erfordernissen. In welcher Weise nicht nur handwerkliche Technik ("low tech") ökologisch und selbstbestimmt eingesetzt wird, sondern auch die Vorteile der "high tech" ausgeprägt werden können, ist noch kaum diskutiert worden. Aber auch hier sollte es möglich sein, eine Art "Allianz-Technik" (Bloch PH: 802ff.; siehe auch Schlemm 1997) zu entwickeln. Notwendig ist also ein Wechsel in der Zielsetzung der Ökonomie - nicht die Erzeugung von Profit und die Kapitalverwertung, sondern die Erzeugung von Gebrauchsgegenständen und Leistungen zur Befriedigung unserer Bedürfnisse muss der Zweck des Wirtschaftens sein. Dieser Wechsel wird nicht von allein ablaufen. Es wird politischer, sozialer und ökonomischer Kämpfe bedürfen, diesen Prozess zu anzustoßen und zu vollziehen. "Konkret" sind die hier vorgestellten Ansätze nicht deshalb, weil sie unmittelbar in der Realität zu finden wären, sondern weil sie auf Möglichkeiten bauen, die verwirklicht werden können - die aber auch verfehlt werden könnten. (Dies folgt einem Sprachgebrauch von Ernst Bloch). Wir werden sehen: "Eine andere Welt ist möglich!". Die Welt, deren Möglichkeiten heute vor uns liegen und die in diesem Buch angedeutet werden sollen, hat als wesentliches Merkmal, dass sie von allen Menschen mitgestaltet werden muss und dass es in ihr keine übergeordneten Mächte geben kann, die sich als Herrschaft wieder verselbständigen. Das heißt in der Konsequenz aber auch, dass die hier dargestellten utopischen Gedanken niemandem aufgezwungen werden können. Es kann nur darum gehen, Möglichkeiten aufzuzeigen.
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