VON DER ENTEIGNUNG ZUR ANEIGNUNG
Eine Veranstaltung des INA mit Robert Kurz
von Werner Ruhoff
Radikale Gesellschaftskritik auf den Begriff der Arbeit zuzuspitzen und
diese Kritik konsequent durchzuhalten, ist für Robert Kurz ein
Grundelement von revolutionärer Theorie, die an Marx anknüpft und über
ihn hinausweist. Das zentrale Bezugssystem der sogenannten modernen
Gesellschaft ist die Arbeit als materielle Grundlage der sozialen
Existenz und als Grundstruktur der Lebenspläne. Die fundamentale Krise
der heutigen Gesellschaft zerstört dieses Bezugssystem. Die dritte
industrielle Revolution des Computerzeitalters macht die menschliche
Arbeit in einem bisher unbekanntem Maße überflüssig. Somit ist gerade die
Arbeiterbewegung unmittelbar und existentiell von deren Erosion
betroffen. Lange waren die Kapitalismusgegner davon ausgegangen, daß in
einer solch zugespitzten Situation der Ausweglosigkeit revolutionäre
Situationen entständen. Stattdessen kommt nun mit dem Sterben der
Arbeitsgesellschaft auch das Ende der traditionellen Arbeiterbewegung.
Von ihr bleibt kaum mehr übrig als die Generalsterbekassen der
Gewerkschaften .
Robert Kurz machte in seinem Vortrag den theoretischen Versuch, wieder
aus der Sackgasse herauszukommen, in die sich die Arbeiterbewegung seit
ihrem Entstehen im 19. Jahrhundert hineinmanövriert hat. Die
protestantische, zugleich liberale Heiligsprechung der Arbeit wurde von
der Arbeiterbewegung regelrecht verinnerlicht. Dagegen war die Zeit vor
ihr - vom Beginn der Renaissance an bis zu den Schlesischen
Weberaufständen - von widerständigen Bewegungen geprägt, die sich den
Enteignungen von Produktionsmitteln und der Unterordnung unter das Regime
rücksichtsloser Zwangsarbeit widersetzten. Sie wollten sich aus guten
Gründen nicht zur Arbeitern machen lassen. Kurz ging es nicht darum,
vorindustrielle Zeiten wieder aufstehen zu lassen. Dennoch bieten
damalige Bewegungen wie die der Ludditen Anknüpfungspunkte für heutige
Emanzipationsbestrebungen.
Die Marktwirtschaft hat die menschliche Tätigkeit vom ursprünglichen Sinn
von direkter Reproduktion menschlichen Daseins losgelöst und in Arbeit
verwandelt. Unter dem Zwang der Kapitalverhältnisse ist diese immer mehr
zum Mittel eines sinnentleerten Selbstzweck geworden, dessen nackter
Inhalt nur noch darin besteht, aus Geld mehr Geld zu machen.
"Arbeit, Arbeit, Arbeit!" so lautet ein Wahlspruch der SPD. Diesen nahm
Kurz als sinnbildhaften Ausdruck, daß es heute nicht mehr darum geht, zu
welchem Sinn und Zweck überhaupt produziert wird. Es geht um abstrakte
Arbeit, der Substanz und Quelle des Geldreichtums. Durch Rationalisierung
wird aber immer mehr dieser betriebswirtschaftlichen Arbeit überflüssig.
Eine ständig wachsende Zahl von Menschen wird ausgegrenzt. Zudem wirkt
die Arbeit unter den Konkurrenzzwängen sozial und ökologisch
zerstörerisch. Die enorme Produktivkraftentwicklung führt so zu mehr
Hetze und Streß - anstatt zu mehr Muße.
Perspektivisch braucht es wieder die Aneigung der Produktionspotenzen
(Ressourcen, Grund und Boden, Maschinen und Werkzeuge, Know how,
Kommunikation etc.) durch die Produzenten selbst. So würde den
verschiedenen Formen ihrer Tätigkeiten ihre unmittelbar eigene Bedeutung
zurückgäben.
Die Rolle der Regulationsinstanz kann auch nicht in Form des Staates
angestrebt werden, was das Scheitern des Realsozialismus belegt hat.
Stattdessen sind Impulse der Selbstorganisation wichtig. Es geht um eine
Reintegration von Produktion, Verteilung und Konsum in die alltäglichen
Beziehungen der Menschen, um die Aufhebung heutiger getrennter Bereiche,
der von Arbeit und Wohnen, Arbeit und Freizeit, Produktion und Ästhetik
u.a..
In der anschließenden Diskussion der 40 TeilnehmerInnen wurde kritisiert,
daß der Arbeitsbegriff auf die Erwerbsarbeit verkürzt wurde. Robert Kurz
sieht aber in seinem Ansatz auch die nicht bezahlte Arbeit einbezogen, da
auch sie direkt oder indirekt für den Verwertungsprozeß des Kapitals
vernutzt werde. Am Beispiel der sogenannten Hausfrauenarbeit können denn
durchaus zwei entgegengesetzte Schlüsse ziehen: einmal die Bezahlung der
Haus(frauen)arbeit oder aber das Zwangssystem des Geldes radikal
anzugreifen. Die erste Lösung legt den Maßstab an, den das Kapital selbst
verkörpere, nämlich die geldmäßige Vernutzung von menschlicher Arbeit.
Die zweite Lösung ist radikal im Wortsinne - von der Wurzel her - und
zielt auf die Emanzipation von den kapitalistischen Zwängen.
Was ist diesbezüglich überhaupt an sozialer Bewegung vorhanden, wurde
gefragt. Inwieweit bieten Projekte wie die Sozialistische Selbsthilfe
Mülheim Ansätze, um beizutragen, eine Aneignungsbewegung zu initiieren?
Besteht der richtige Weg in einer radikalen Verweigerung und einem eher
militanten Widerstand? Sind gemeinwesenorientierte Projekte wie die SSM
verlängerte Arme staatlicher Institutionen, die bei der Krisenverwaltung
helfen? Oder sind solche Projekte eher Ansätze von Emanzipation, die
teilweise aus der Not geboren doch Wege aufzeigen können, jenseits von
der Alimentierung durch den Staat und der Betriebswirtschaft eigene Ideen
in die Tat umzusetzen und Ausstrahlung zu entwickeln? Auf diesem Gebiet
sind zwangsläufig Kompromisse zu schließen, weil solche Projekte nicht
von politischen und marktökonomischen Bedingungen unberührt bleiben
können. Deswegen gilt es Kriterien zu entwickeln, die im Sinne von
Emanzipation ausschlaggebend für die Einschätzung von Projekten sein
können.
Köln, den 16.11.1998
Robert Kurz - Publizist und Mitherausgeber/Redakteur der Buchzeitschrift
"Krisis".