Neue Arbeit für Mühlheim

Institut für Neue Arbeit

Wege aus der Krise der Arbeit

... und anderswo

 

Bericht über die Veranstaltung:

Neue Arbeit - Durchwursteln oder eine reale Chance für die Veränderung der Arbeitsgesellschaft?

am 13.12.99 im Elternzentrum, Mehringdamm 114, Berlin

Ca. 90 Personen folgten unserer Einladung sich über das Konzept NeueArbeit" des Philosophen F. Bergmann und dessen praktische Umsetzung zuinformieren. Neben Frauke Hehl, des Berliner Projektes "workstation", die die Veranstaltung leitete, berichteten Elisabeth von Renner (Netzwerk Neue Arbeit, Kassel), Manuela Krengel, Monika Schulz (Haus der Möglichkeiten in Lauchhammer) und Michael Birkenbeul (SozialistischeSelbsthilfe Köln-Mülheim) aus der laufenden Arbeit in ihren Projekten.
Zunächst führte Elisabeth v. Renner in die Theorie von Frithjof Bergmann ein. Bergmann geht in seinem Konzept davon aus, daß immer weniger Menschen einen Vollerwerbsarbeitsplatz ein Leben lang innehaben werden. Daraus zieht er die Konsequenz über eine Drittelung der zur Reproduktion notwendigen Arbeits-Zeit in "'normale' Erwerbsarbeit","High- Tech-Selfproviding" (Eigenarbeit) und "calling" (Berufung) den Betroffenen Möglichkeiten jenseits des traditionellen Erwerbsarbeitssystems zu eröffnen. Bergmann möchte mit seinem Konzept, zum einen die verfügbaren Jobs gerechter verteilen. Zum zweiten, betonter daß durch Eigenarbeit und schlauen Konsum materielle Einbußen der Reduzierung der Arbeitszeit ausgeglichen werden können. Insgesamt, so Bergmanns Vorstellung, trägt "Neue Arbeit" zur Verbesserung der Lebensqualität der Menschen bei; neben der Erwerbsarbeit bleibt genügend Zeit zu überlegen, was man/frau wirklich, wirklich will, um daraus neue Perspektiven zu entwickeln.

Nach der theoretischen Einführung stellten Manuela Krengel und Monika Schulz ihr Projekt "Haus der Möglichkeiten" in Lauchhammer vor. Die Kleinstadt Lauchhammer gehört zu den Industrieregionen der neuen Länder, die von extrem hoher Arbeitslosigkeit betroffen sind, nachdem der Braunkohle-Abbau und die damit zusammenhängende Schwerindustrie weggebrochen sind. Mit dem Haus der Möglichkeiten, das verschiedene Werkstätten (Töpferei, Nähwerkstatt, Kunst-und Kulturzentrum) beinhaltet, sollte zunächst ein Begegnungszentrum geschaffen werden, das Raum für Idee, Kreativität und im Bergmann'schen Sinne "calling" bietet. Außerdem werden verschiedene Beratungen angeboten. Die beiden Frauen aus Lauchhammer berichteten von anfänglichen Problemen, Akzeptanz für andere Formen der Arbeit bei Menschen zu finden, deren Vorstellung vom lebenslangen sicheren Arbeitsplatz plötzlich zerstört wurde. Es braucht offensichtlich einige Zeit und sehr viel Engagement der ProjektinitiatorInnen, einen Umdenkungsprozeß anzustoßen. Nach mittlerweile fast zweijähriger Erfahrung werden die Angebote jetzt in größerem Umfang genutzt, neue Projekte befinden sich in der Planung. Das Hauptproblem besteht aktuell darin, die Finanzierung des Projektes über das Auslaufen der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen hinaus zu sichern.
Michael Birkenbeul von der "Sozialistischen Selbsthilfe Mühlheim (SSM)"konnte dagegen aus der 20jährigen Erfahrung seines Projektes darstellen, daß die Bergmann'sche Theorie der Drittelung von "Erwerbsarbeit", "Selfproviding" und "Calling" in der Praxis funktioniert. In der SSM haben sich 16 Personen zusammengefunden, um auf einer alten Industriebrache gemeinsam zu leben und zu arbeiten. Die SSM betreibt ein Umzugs- und Entrümpelungsunternehmen und einen Second-Hand-Laden, in dem gemeinschaftlich gearbeitet wird, und aus deren Gewinnen 100,- DM wöchentlich an alle Mitglieder, auch an die Kinder, ausgezahlt wird. Alle werden kranken- und rentenversichert. Darüber hinaus leben die Mitglieder der SSM mietfrei, essen gemeinsam und können sich ihren Bedarf an Kleidung, Haushaltswaren etc. aus ihrem Laden geldlos besorgen. "Erwerbsarbeit" und "Selfproviding" gehen hier nahtlos ineinander über.
In der Diskussion gab es zunächst zahlreiche Nachfragen zur Praxis der einzelnen Projekte. Im Vordergrund standen dabei Fragen der Finanzierung(öffentliche Gelder ja oder nein; welche öffentlichen Gelder können genutzt werden etc.), Fragen der Renten- und Alterssicherung (was passiert, wenn man/frau nicht mehr erwerbs- oder eigen-arbeiten kann, welche Form der Alterssicherung existiert im Konzept von Bergmann) und die Frage nach dem Übergang von Eigenarbeit in gewerbliche Tätigkeit (wo hört Eigenarbeit auf und wann fängt gewerbliche Arbeit an).
Eine grundsätzlichere Diskussion entbrannte an der Frage, ob ein Projekt wie die SSM, eine reine Nische sei oder einen Alternativentwurf darstellen könnte. Aus dem Publikum heraus wurde argumentiert, daß die SSM nur als Armuts-Ökonomie funktionieren könne, bei der die einzelnen auf einem relativ geringen materiellen Niveau lebten. Michael Birkenbeul rechnete allerdings vor, daß sie materiell nicht sehr viel schlechter dastehen, als manch' eine normale Angestellte, wenn man die Lebenshaltungskosten, die bei der SSM gemeinschaftlich getragen werden mit einbezieht. Dagegen trug er sehr überzeugend vor, daß dieses gemeinschaftliche Leben ein mehr an Lebensqualität beinhalte. Als zweiter großer Einwand gegen das Konzept von Bergmann wurde vorgebracht, daß es zur Individualisierung der Erwerbslosigkeit beitrage, gerade wenn, wie im Projekt von Lauchhammer das individuelle "Calling" im Vordergrund steht und Erwerbslosigkeit mehr psycho-sozial bearbeitet werde. Zudem wurde angemerkt, böten die in Lauchhammer initierten Werkstätten kaum tatsächliche Zukunftsperspektiven jenseits er Erwerbsarbeit für eine größere Zahl von Personen. Keinesfalls könne eine Töpferei und eine Nähwerkstatt Industriearbeitsplätze ersetzen. Die Frage wurde laut: kann "Neue Arbeit" unter den Bedingungen der Massenarbeitslosigkeit in Lauchhammer mehr sein als eine Beschäftigungstherapie? Hier wurde angemerkt, daß es neue Ideen für ein größeres Projekt gibt, das auch "Marktchancen" besitzt. Das Konzept schließe, wie das Beispiel der SSM zeigt, nicht aus, daß Neue Arbeit- Projekte auch "am Markt" erfolgreich sein können. Zugleich wurde noch einmal betont, daß das Haus der Möglichkeiten zunächst einmal ein kleiner Versuch war, möglichst niederschwellig Angebote zu machen,

einen Umenkungsprozeß in Gang zu bringen.
Ein dritter großer Diskussionsbereich war die Frage nach dem gesellschaftlichen und individuellen Interessen an "Neuer Arbeit". Die zahlreichen Fragen aus dem Publikum machten deutlich, daß ein Interesse einzelner Personen, sich an einem Neue Arbeit-Projekt zu beteiligen, durchaus vorhanden ist und es einen Bedarf an Beratung und der Vermittlung von Kontakten gibt. Interessanterweise gibt es sowohl in Lauchhammer als auch in Mühlheim Arbeitsämter und

GewerkschaftlerInnen, die auf der Suche nach Perspektiven, sich für das Neue Arbeit-Konzept zu interessieren beginnen. Allerdings gibt es bisher kaum Unternehmen oder Betriebe, die sich an der Verwirklichung der Drittelungs-Idee Bergmannsbeteiligen. Das Netzwerk Neue Arbeit versucht zur Zeit, wie Elisabeth v. Renner erklärte, Unternehmen zu gewinnen.

Fazit:
Mit der Veranstaltung wurden zahlreiche Informationen zur Praxis existierender Neue-Arbeit-Projekte einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt. Daß sich rund 90 Personen aus ganz unterschiedlichen linken Spektren für das Thema interessieren, kann bereits als ein Erfolg gewertet werden. Das positive Beispiel der Sozialistischen Selbsthilfe Mühlheim gab darüber hinaus Anschauung, daß die Theorie der Neuen-Arbeit auch in der Praxis funktionieren kann und vermittelte Anregungen, die, so der Eindruck, vom Publikum mit Interesse wahrgenommen wurden. Die rege Diskussion machte zugleich deutlich, daß neben dem großen Interesse an Formen des kollektiven, anderen Arbeitens, grundsätzliche Fragen an Bergmann noch offen stehen und eine kritische Auseinandersetzung fortgesetzt werden muß. Offen blieben u.a. die Fragen,

  • ob das Konzept Neue Arbeit Perspektiven auch im Bereich der (relativ gesicherten) Stammbelegschaften des industriellen Sektors bieten kann, oder ob es sich "nur" an die marginalisierten und
  • prekarisierten ArbeitnehmerInnen richtet,
  • ob und wie Neue-Arbeit-Projekte ihr Nischen-Dasein überwinden können, welches Verhältnis zum Markt angestrebt wird, inwieweit das Konzept mehrleistet als Menschen in eine ohnehin unsichere Selbständigkeit zu entlassen,
  • wie sich das Konzept in die Diskussion um den Sozialstaat einreiht, ob es ggf. Ansatzpunkte gibt, das Konzept Neue Arbeit in die laufende Existenzsicherungsdebatte / soziale Grundrechtsdebatte zu integrieren usw.

Für Februar ist eine Diskussionsveranstaltung mit Bergmann selbst geplant, auf der wir diese Fragen vertiefend diskutieren wollen.

# kontakt :Frauke Hehl

# work.station@berlin.de

# http://www.snafu.de/~workstation

 

 

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