Neue Arbeit für Mühlheim

Institut für Neue Arbeit

Wege aus der Krise der Arbeit

... und anderswo

 

Bericht über die Veranstaltung:

MÖGLICHKEITEN SELBSTBESTIMMTER INTEGRATION
Wer ist hier behindert?

Wer ist hier behindert? Diese Frage diskutierten die 20 TeilnehmerInnen am 15. Januar auf der Tagung des Institutes fuer Neue Arbeit. Zentrales Anliegen war es, bestehende Ansaetze von selbstbestimmten Leben Behinderter vorzustellen und neue Perspektiven fuer eine selbstbestimmte Integration jenseits der "Fuersorgeanstalten" auszuloten.

Um die Angst vor dem Schritt aus dem Heim in ein selbststaendiges Leben zu nehmen, bietet Horst Ladenberger vom "Zentrum fuer selbstbestimmtes Leben" in Koeln Beratungen an. Fuer ihn ist die Ausgrenzung auch heute noch gegenwaertig. Waehrend es im Dritten Reich die systematische Ausrottung war, gibt es heute die subtilere Form "sozialen Toetens" in Form von Ruhigstellung und Demobilisierung Behinderter. In den USA gelang es zum ersten Mal das Denkmuster zu durchbrechen, dass schwerstbehinderte Menschen nicht selbstbestimmt leben koennten. Es waren Poliokranke, die erfolgreich mobile Beatmungsgeraete einforderten und sich den Traum eines Lebens in den eigenen vier Waenden erfuellten. Behinderte sollten sich auch hier ihrer Moeglichkeiten bewusst werden und durch die Inanspruchnahme von Beratung Selbstbewusstsein entwickeln.

Behinderungen bringen die Angewiesenheit auf Unterstuetzung mit sich, welche sogar oft existenziell notwendig ist. Da bei der konventionellen Betreuung in Heimen haeufig ein Ungleichgewicht zwischen Pfleger und Gepflegtem herrscht, bedarf es der Umkehrung dieser Beziehung: Der Behinderte wird zum Handelnden, vom Objekt zum Subjekt, indem er sich Unterstuetzung gemaess seinen individuellen Beduerfnissen selbst organisiert. Dem entspricht das Modell der "Persoenlichen Assistenz". Dies kann von so genannten Assistenz-Genossenschaften, die die Beduerfnisse ihrer Mitglieder in den Mittelpunkt stellen und individuelle Hilfe anbieten, bis zum "Arbeitgebermodell" reichen. Bei letzterem stellen Behinderte ihre AssistentInnen selber an - mit Arbeitsvertrag und Sozialabgaben. Die behinderten Menschen bestimmen selbst ueber Personen, Organisation und Finanzen. Als Querschnittsgelaehmter bezifferte Ladenberger seinen eigenen Assistenzbedarf mit ca. 3,5 Arbeitsstellen, was einem finanziellen Aufwand von ungefaehr 14.000 Mark im Monat entspricht. "Im Heim weiss man nie, wer gerade durch die Tuer kommt", betonte er. Hinzu kommt, dass gerade Heime meist zu Ineffizienz und autoritaeren Strukturen neigen, was natuerlich auch Misswirtschaft beguenstigt. Aber auch die ambulanten Sozialdienste sind meist nicht so flexibel, z.B. bei Mahlzeiten zu ungewoehnlichen Urzeiten.

Die Pflegeversicherung sieht Ladenberger als unzureichend und entwuerdigend. Jeder Hilfstaetigkeit entspricht hier eine detaillierte und gerade dadurch unrealistische Zeitvorgabe: "Ausscheidungen: 14 Minuten, 2 Sekunden. Dafuer gibt es 37,82 DM." Dabei wird das reine Sich-Bereit-Halten fuer die Beduerfnisse des Behinderten nicht berechnet. Ladenberger: "Wenn ein Behinderter alle 30 Minuten ein Glas Wasser trinken moechte, wird der Hilfskraft offiziell nur die Zeit fuer das Zum-Mund-Fuehren des Glases bezahlt, nicht das Sich-Bereit-Halten oder etwa die Zeit, das Wasser zu holen."

Fokus-Wohnprojekte (Niederlande)

Auch Christof Zisch verfuegt ueber ein Budget, mit dem er seine Assistenzkraefte selbst "einstellen" kann. Er stellte noch eine weitere Form alternativer Assistenz vor: die Fokus-Wohnprojekte in den Niederlanden. Eine Stiftung konnte durchsetzen, dass in Neubaugebieten ein gewisser Prozentsatz der Wohnungen rollstuhlgerecht zu bauen ist. Fuer deren Bewohner ist eine Rufzentrale eingerichtet, ueber die rund um die Uhr Hilfskraefte abgerufen werden koennen. Diese AdL-Angestellten (Aktivitaeten des taeglichen Lebens) - bieten Hilfe bei der Verrichtung von Alltaeglichkeiten, wie Aufstehen, Anziehen etc. Es wird eine stundenweise Betreuung nach individuellen Beduerfnissen geleistet, wobei bis zu 30 Stunden Assistenzzeit pro Woche und Person abrufbar sind. Fuer die weiter gehende Unterstuetzung wie Kochen oder Pflege sind andere, externe Dienste zustaendig. Durch das im Fokus-Wohnprojekt praktizierte barrierefreie Bauen und die angebotenen kleinen Hilfereichungen koennen Behinderte ein fast normales Leben fuehren. Darueber hinaus werden Behinderte durch das gemeinsame Wohnen mit Nichtbehinderten in diesen Vierteln nicht von der uebrigen Bevoelkerung ausgegrenzt. Auch in Daenemark gibt es aehnliche Projekte. Deutschland hat hier leider Nachholbedarf.

Gemeinschaften: Hilfe zur Selbsthilfe

Detlef Schmitz von der "Sozialistischen Selbsthilfe Muelheim" (SSM) referierte ueber eine noch weiter gehendere Form von Integration. Auf einem vor 20 Jahren besetzten Fabrikgelaende hat sich eine Lebens- und Arbeitsgemeinschaft von ca. 15 Personen gebildet, die stets Behinderte, alte Menschen oder sozial Benachteiligte zu ihren gleichberechtigten Mitgliedern zaehlte. Mit Umzuegen, Wohnungsentruempelungen und einem Second-Hand-Laden verdient die SSM Geld fuer den Lebensunterhalt. Durch Eigenarbeit, also durch Herstellung eigener Wohnungen, gemeinsames Kochen, Kinderdienst, usw. senken die Mitglieder ihre Lebenshaltungskosten, womit sie sich wiederum den Sachzwaengen des Marktes ein Stueck weit entziehen koennen. So koennen die Behinderten gemaess ihrer Moeglichkeiten mitmachen. Schmitz sieht es so, dass jeder Mensch Faehigkeiten hat. Es kommt nur darauf an, ihnen die Moeglichkeit zu geben, diese entsprechend einzusetzen. Die gemeinsame Arbeit bietet den Behinderten, die zuvor zum Teil unter unmenschlichen Bedingungen in Heimen lebten und dort auch Misshandlungen ausgesetzt waren, nicht nur viele soziale Kontakte. Sie "bluehen richtig auf" und entwickeln ungeahnte Fertigkeiten. Ausserdem sind ihnen in der Gemeinschaft Dinge moeglich, die fuer jeden Nichtbehinderten selbstverstaendlich sind, ihnen im Heim jedoch versagt waeren, wie beispielsweise ein Haustier zu haben oder allein angeln zu gehen. So brauchen Behinderte in einer Lebensgemeinschaft weniger Hilfestellung als ueblich. Zudem verteilt sich die Betreuung und Unterstuetzung auf viele Schultern.

Dirk Makoschey, Dozent fuer Sonderpaedagik an der Uni Koeln, wies in der Diskussion allerdings auf einen gewissen Vorteil des Arbeitgebermodells hin. Durch die selbst organisierte Bezahlung der Assistenz koennten die Behinderten "das gute Gefuehl haben, dass wenn sie jemanden um Hilfe rufen, dieser auch dafuer entschaedigt wird. Sonst koennte es sein, dass Beduerfnisse unterdrueckt werden, weil sie niemandem "unnoetig" zur Last fallen wollen."

Gisela Emons vom "Institut fuer Neue Arbeit" (INA), welches das SSM-Projekt unterstuetzt und wissenschaftlich begleitet, unterstrich, dass dort alle Mitglieder, ob nichtbehindert oder behindert, ob alt oder jung, gleichberechtigt sind, auch die Auszahlung ist fuer alle gleich. Ob Erwerbsarbeit, Eigenarbeit oder politisches Engagement, alle Taetigkeiten gelten als gleichwertige Arbeit, wobei jede/r nach den individuellen Moeglichkeiten seinen Beitrag leistet. Der traditionelle Arbeitsbegriff wird dadurch aufgebrochen. Bei der SSM traegt darueber hinaus nicht der Einzelne, sondern die Gemeinschaft die Last der Existenzsicherung. So ist niemand den Gesetzen des Marktes allein ausgesetzt. Hinzu kommt, dass natuerlich niemand vor Schicksalsschlaegen gefeit ist und jeder Mensch im Laufe seines Lebens selbst eine Behinderung bekommen kann. Das Leben in einer Gemeinschaft hat dann den wichtigen Vorteil, nicht alleine ueber die Runden kommen zu muessen.

Die erfolgreiche Umsetzung des Konzepts der Neuen Arbeit ist vor allem an die Schaffung eigenen Wohnraums gekoppelt. Das wird auch von staatlicher Seite immer mehr akzeptiert und auch gefoerdert. Dies erfolgt nicht nur in Koeln, wo beispielsweise Obdachlose oeffentliche Wohnungsbaumittel erhalten, um sich ihr eigenes Haus durch die Sanierung eines ehemaligen Kasernengebaeudes zu schaffen. Es erfolgt selbst in Laendern der Dritten Welt. So werden seit dem letzten Regierungswechsel auch in Venezuela aehnliche Initiativen gefoerdert.

Aber nach den Vorstellungen des INA soll "Neue Arbeit" auch als nachhaltige Stadtentwicklung auf Stadtquartiersebene moeglich werden. Dies kann auf der Industriebrache "Alter Gueterbahnhof" mitten in Koeln-Muelheim Wirklichkeit werden. Auch behinderte Menschen mit ihren Beduerfnissen haben bei diesem buergernahen Projekt ihren festen Platz, so dass eine weitere qualitative Stufe von Integration dort Realitaet werden kann.

Gnadenloser Standort-Konkurrenzkampf

Aber was ist eigentlich der tiefere Grund, dass Beeintraechtigungen von Menschen zu Hindernissen, zu Behinderungen werden? Die Ursache ist eine gesellschaftliche, stellte Heinz Weinhausen vom INA in seinem Referat fest. Sie ist fundamental im Ware-Geld-Verhaeltnis angelegt. Werden Produkte fuer den Markt hergestellt, gilt nur die darauf verwendete gesellschaftlich durchschnittliche Arbeitszeit. Als Arbeitskraft kann so nur bestehen, wer die jeweilige Norm an Leistung, Intensitaet, Fertigkeiten und Know-how zu erfuellen vermag. Gleichzeitig wird die Erwerbsarbeit zur zentralen gesellschaftlichen Sphaere, worueber Einkommen und Existenz gesichert, Anerkennung und Prestige erworben werden. Diese jeweiligen kuenstlichen Leistungsnormen koennen Behinderte aber per se nicht erreichen, was zwangslaeufig zu deren Minderachtung undAusgrenzung fuehrt. Dass viele es dennoch mittels besonderem, verzweifeltem Fleiss versuchen, in die heikle Mitte der Gesellschaft zu gelangen, steht auf einem anderen traurigen Blatt.


In der heutigen Krise der Arbeitsgesellschaft hat sich die Leistungsverdichtung noch enorm verschaerft. "Olympiareife Belegschaften" liefern sich einen gnadenlosen Standort-Konkurrenzkampf. Aus Angst um die eigene Existenz wird diese Zurichtung und Ueberforderung leider von vielen mitgemacht. Weinhausen fuehrte aus, dass "die Nichtbehinderten einem Leid tun koennen, weil sie dem Leistungswahn der Markwirtschaft alltaeglich ausgesetzt, andererseits ihn aber auch tief verinnerlicht haben. Sie sind eigentlich die wirklich Behinderten." Aber auch sie werden die herrschenden Normen nicht stets und ein Leben lang erfuellen koennen. So sollten sie lernen, anders zu leben. "Wir, die Nichtbehinderten, brauchen Behinderte gewissermassen, um aus diesem Leistungsgefaengnis auszubrechen." Tun sich die Normalos mit den beeintraechtigten Menschen gleichberechtigt zusammen, sind sie gezwungen, das Arbeiten und Produzieren nach menschlichem Mass zu organisieren. Ein Weg dorthin ist die "Neue Arbeit". Hier koennen die ueberzogenen Normen und Massstaebe zurueckgeschraubt und die Existenz bei weniger Erwerbsarbeit und mehr gemeinsamer Selbstversorgung, insbesondere durch Schaffung eigenen Wohnraums gesichert werden. Die Integration von Behinderten schuetzt die Nichtbehinderten dabei dauerhaft davor, wieder in das uebliche Muster zu verfallen und Arbeit und Geldverdienen als Selbstzweck zu betreiben. So schloss Weinhausen mit dem Appell: "Behinderte, lasst uns mit dieser Gesellschaft nicht allein."

Adressen: INA - Institut fuer Neue Arbeit e.V., Duesseldorfer Str. 74,
D-51063 Koeln, Tel. (02 21) 640 52 45, Fax 640 31 98

ZSL - Zentrum fuer selbstbestimmtes Leben,
An der Bottmuehle 2-15, D-50678 Koeln
Tel. (02 21) 32 22 90, Fax 32 14 69

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