Philosophisches Leben online
- ein Tagebuch - Teil 6


18.11.1998

Aus einer Mail an C.F. (Wien):

> Nicht "Hoch die Arbeit" und "Recht auf Arbeit" müssen die Devisen lauten, sondern
> die konsequente Reduzierung der durch menschliche Hand zu verrichtenden,
> gesellschaftlich notwendigen Arbeit und durchwegs das "Recht auf Faulheit" ...

Na also, es ist faszinierend, wie einig wir uns da sind. Es können also nicht bloß Spinnereien sein. Und daß uns das Internet voneinander erfahren läßt, ist schon wieder ein Beweis, wie gut es ist. Ich habe viele dieser Gedanken schon 1991 (ein Jahr nach der Wende, d.h. ein Jahr nachdem ich erstmals an westliche linke Literatur rankam) aufgeschrieben (hab ich eben erst wiedergefunden und mich total gewundert, wie alt diese Gedanken bei mir schon sind und daß ich in den letzten 7 Jahren gar nicht mehr so viel dazugetan habe). Damals war ich damit weit und breit allein auf weiter Flur. In einem kleinen Freundeskreis ("Zukunftswerkstatt Jena") haben wir uns lange Zeit immer mal Zeit dafür genommen und i.a. denken hier jetzt auch alle so und haben selbst Ergänzungen eingebracht. Aber in anderen Zusammenhängen ist dann immer wieder jede/r von uns ziemlich allein. (Das liegt also nicht nur an mir persönlich, daß ich vielleicht ein unverträglicher Mensch wäre und deshalb niemand mit mir zu tun haben will, was ja auch noch eine Ursache sein könnte, wenn man immer in die Wüste redet.)

Jetzt übers Internet vernetzen sich auf einmal (und seit einem halben Jahr extrem verstärkt) lauter Leute, die an vielen Stellen (oft eine/r gleichzeitig an vielen Stellen) genauso oder ähnlich denken wie ich. Dabei führe ich eigentlich nur bilaterale Mailkommunikationen, weil ich keine Zeit für Mailinglists oder gar Newsgroups oder Chats habe. Das will doch was heißen! Es wäre doch gelacht, wenn sich das nicht auch in der Qualität unseres Denkens und vielleicht auch Handelns auswirken würde.

Ich stehe gerade vor einigen Entscheidungen, welchen Themen ich mich in Zukunft auf welche Weise widmen will (einiges hängt davon ab, ob und wofür ich Geld und freie Zeit bekomme). Aber zu einem recht großen Teil lasse ich mich da schon von meinen Erfahrungen aus den Mailwechseln leiten (abgesehen davon, daß die Zeit dafür ja auch ins Gewicht fällt und das selbst schon ausreichend für ein Hobby wäre).

Noch was Lustiges:
Da hat mir doch ein netter Mensch die Kosten fürs Mailschreiben aufgerechnet:
"Das Geld, das ich in den letzten Stunden auch nicht verdient habe schenke ich dir, in Form dieser e-mail! D.h. diese e-mail ist 8 h x 35 DM/h = 280 DM wert, ich hoffe du weißt das zu würdigen, so teure Bücher hast du sicher nicht viele im Schrank!"
Ich glaube, auf diese Weise würden wir alle sicher bald steinreich...
Es zeigt doch, wie blödsinnig auf dieser Welt die Werte verrechnet werden.

Besuch aus Australien im Philosophenstübchen!

Rudi B., mit dem ich bisher nur per e-Mail im Cyberspace verbunden war, besuchte uns in diesem Sommer in seiner Geburtsstadt Jena. Ein von ihm gemaltes Bild seiner neuen Heimat seit 45 Jahren ist auch im Internet zu betrachten.

 

04.10.1999

Habe ich tatsächlich schon ein Jahr lang nichts mehr in diesem Tagebuch geschrieben? Dabei habe ich doch durchaus ein sehr aktives Online-Leben geführt. Aber vielleicht gerade deshalb bin ich gar nicht dazu gekommen, auch noch "darüber" zu reflektieren und zu schreiben. Inzwischen bekomme ich so 20 bis 25 Mails am Tag, wobei allerdings ca. die Hälfte nicht an mich persönlich gerichtet sind, sondern aus Mailinglists und Newslettern kommen. Letztere müssen ja nicht beantwortet werden. Ich versuche aber ständig, mir einige Tage freizuhalten, d.h. gar nicht erst online zu gehen. In manchen Mailinglists verliert man zwar dann zeitweise den Faden, aber ich kann einfach meine Freizeit nicht nur im Cyberspace verbringen, sondern muß und will ja im wirklichen Leben(IRL) die Substanz (das Wissen) dafür erarbeiten (und auch sonst noch leben...;-) ). Im Web surfe ich nur äußerst maßvoll. Eigentlich arbeite ich nur die URLs ab, die mir im Laufe der jeweils 4-5 Tage empfohlen wurden und dann noch maximal 3 Links weiter. Das reicht völlig aus - mehr Inhalte kann ich gar nicht verarbeiten (ich speichere mir die Dateien in ein Web-Archiv und lese sie dann später offline).

Aus der Menge von Cyber-Bekanntschaften haben sich so 4 bis 5 Menschen herauskristallisiert, mit denen ich ständig intensiv inhaltlich kommuniziere. Hier dauert die Beantwortung einer Mail schon einmal bis zu 2 Stunden. Es entwickelt sich dabei aber recht fruchtbare Diskussionen, bei denen (hoffentlich) alle Beteiligten lernen. Für mich ist dadurch eine "scientific community" hergestellt, die ich vor 5 Jahren noch vermißt habe.

Dieses Jahr hatte ich viel Zeit, denn ich war/bin nach 4 ABM- und Jobjahren mal erstmals ein ganzes Jahr erwerbslos. Leider war das zweite Buch vorher schon fertig geworden, so daß ihm diese freie Zeit nicht mehr zugute kam. Ich habe auch sonst keinen geschlossenen Themenkomplex bearbeitet. Der Jugoslawienkrieg hat ein viertel Jahr lang meine Kräfte stark beansprucht. An einem anderen Thema, das ich mir eigentlich nur überblicksartig aneignen wollte, sitze ich jetzt noch. Es geht hier um das Selbst-Organisations-Management. In diesem Bereich hatte ich einen Honorarauftrag. Ansonsten hatte ich ja jobmäßig von meinen HTML-Kenntnissen in den vergangenen 2 Jahren profitiert, hatte auch einige Nebenjobs. Ich habe mich aber entschieden, in diesem Bereich keine ständige technische Weiterbildung zu investieren, so daß mir jetzt für eine berufliche Zukunft auf diesem Gebiet einfach das inzwischen nötige Know-How fehlt (Datenbankanbindung etc.).

Mal abgesehen davon, daß ich noch nicht weiß, wie ich nach Ablauf des Arbeitslosengeldes zum nötigen "Kleingeld" komme (für Alhi bin ich doch noch nicht bedürftig genug), habe ich für 2000 genug Pläne. Sogar in die "richtige" Wissenschaft steige ich ein, denn über das Internet (!!!) hat - nach Kenntnis meines Web-Projekts - ein Philosophieprofessor mit mir Kontakt aufgenommen und mich gebeten, in einer von ihm geleiteten Projektgruppe mitzuarbeiten. Dazu vielleicht demnächst mehr...

11.10.99

Ich war am letzten Wochenende auf einem Symposium über Regionalentwicklung in Merseburg. Da ich da selbst Referentin war, habe eine Woche zur Erarbeitung des Vortrags gebraucht und brauche jetzt noch einmal zwei Tage zur Nacharbeit, d.h. Veröffentlichungstext überarbeiten, Gespräche auswerten, abgesprochene Sachen verschicken...

Allein dadurch hängen seit 4 Tagen 33 noch zu beantwortende Mails in meinem Briefkasten und so ca. 120 Mails warten im T-Online-Briefkasten noch aufs Abholen. Eigentlich erfordert das Ganze wirklich einen richtigen Wissenschaftler-Job. Aber im Gegensatz dazu muß ich mir jetzt ziemlich nachdrücklich einen Job suchen, der mir dann demnächst wieder täglich (hoffentlich "nur") acht Arbeitsstunden stiehlt. Es sieht nämlich gar nicht danach aus, daß ich einen finden kann, wo ich mein Können und meine Interessen ausarbeiten und einbringen kann.

Grad in Merseburg wurde einiges besprochen, daß es sich durchaus lohnen könnte, im Bereich der Regionalentwicklung zu ackern. Allerdings mit Sicherheit erst mal wieder durch Erbringen einer nichtfinanzierten Vorleistung. Realistischerweise weiß ich aber, daß die Jobs dann eh an andere Leute über andere Wege gehen... Außerdem habe ich mittlerweile seit 10 Jahren massive Vorleistungen auf vielen Gebieten erbracht und mag mich einfach nicht mehr mit vagen Versprechen vor andere Karren spannen lassen.

Übernächste Woche findet das Sozialpolitische Forum statt, bei dem ich mich auch aktiv beteilige. Ich hoffe aber, zwischenzeitlich auch meine eigenen Themen weiterentwickeln und die Mail-Stapel aufarbeiten zu können. Wer sich erinnert, in dieser Zeit von mir lange nichts gehört zu haben, weiß jetzt also, womit ich im Offline-Leben so beschäftigt war...

16.10.99

Meine Mutti zieht heute aus unserer Wohnung aus. Wir haben in zwei Wohnungen seit 12 Jahren mit ihr zusammen gewohnt. Sie hatte ihre eigenen zwei Zimmerchen. Ihr Schlafzimmer haben wir damals bei der Sanierung extra von unserer Wohnzimmerfläche "abknapsen" lassen. Jetzt zieht sie (weil ihr die Straße vor unseren Fenstern zu laut ist) in die kleine Wohnung, deren Fläche in unserer früheren Wohnung ihr Zimmer war (inzwischen bei der Sanierung mit Bad und Küche versehen). Eigentlich müßten wir uns nun auch eine kleinere Wohnung suchen. Aber der Umzug meiner Mutter (mein Mann richtet ihr in der neuen Wohnung alles ein...) und das ganze Drumrum frißt unsere ganze Kraft. Wir planen, daß unsre Tochter Tanja in das ehemalige Oma-Zimmer zieht. Dazu braucht sie neue Möbel (IKEA), aber so langsam freut sie sich sogar darauf. Wir bekommen in ihrem ehemaligen Kinderzimmer etwas Platz für ein Archiv. Leider liegt das in der Wohnung so ungünstig (man muß durch unser Schlafzimmer), daß ich das nicht als Raum für Gesprächsrunden oder so nutzen kann. Das tut mir sehr leid, denn das wäre mir eigentlich wichtiger als ein Archiv (die meisten Bücher sind sowieso unzugänglich in Kartons weit weg gestapelt, die holen wir sowieso nicht zurück, weil auch der neugewonnene Platz dafür nicht ausreichen würde.)

04.11.99

Vor zehn Jahren war doch irgendwas?? (Die Demo auf dem Alex) Als Nicht-Berliner hab ich damals nicht so viel mitbekommen. Die Ereignisse hatten sich sowieso ziemlich überstürzt und ich hänge mein Interesse meist nicht an Einzelereignissen auf, sondern suche wichtige Trends/Tendenzen usw. zu sehen. Daß das Ende der DDR gekommen ist, sah ich damals noch nicht. Das ging aber anderen auch so.

Was werde ich wohl heute übersehen? Heutzutage besteht das Problem gerade darin, warum trotz einer Entwicklung, die in den ökologischen und sozialen Abgrund führt, KEINE (oder zu kleine) Demos stattfinden!

Ich bin gerade dabei, einen Plan für 2000 aufzustellen, damit ich mit meiner Zeit über die Runden komme. Vom Geldverdienen schreib ich hier mal nicht, das ist sowieso noch nicht geklärt. In der Freizeit muß ich mich inhaltlich auf die Dissertation konzentrieren. Bis dahin will ich den Schwerpunkt "Selbstorganisations-Management" abgeschlossen haben, so daß die Inhalte nur bei Bedarf mal wieder verwendet werden. Drei Veröffentlichungen sind bis Ende 1999 auch noch geplant. Die liegen inhaltlich aber schon in einer Thematik, die mich ins Jahr 2000 begleiten wird. Es geht um die Dinge, die in Oekonux angedeutet werden. Ausgehend von den Texten

werden wir in Jena Diskussionsrunden durchführen. Mal sehen, wie das läuft.

05.11.99

Puh. Ich freue mich zwar über die täglichen Mails, aber ich komme in eine zeitliche Klemme. Mindestens 10 wären täglich zu beantworten. Die Qualität vieler Mails ist aber so angestiegen, daß ich zur Beantwortung einer Mail oft eine Stunde und mehr brauche...

Was nun???

Erfahrungsgemäß könnte ich zwei Tage pro Woche mit Mail-Lesen(-Auswerten) und Mail-Schreiben sowie mindestens einen Tag zum Surfen im Internet brauchen. Dabei "surfe" ich eigentlich gar nicht, sondern arbeite nur die URLs ab, die mir in den Mails oder Literatur als Quelle auffallen. Dann speichere ich die ab und lese sie offline. Besonders nervig ist, daß ich die URL jedesmal per Hand extra in den Quelltext der abgespeicherten Datei schreiben muß, um den Text später ordentlich zitieren zu können. Aber die Auswertung ist intensivste Arbeit, erschwert durch die weißen Seiten auf dem Monitor, die den Augen ganz schön zu schaffen machen. Aber das wißt Ihr ja alles selbst.
Manchmal lebe ich mit einer irritierenden Zeitverschiebung: Ich habe für mich endlich durchgesetzt, daß ich nicht jeden Tag die EMails hole und bearbeite, sondern aller drei/vier Tage. Dadurch bearbeite ich manchmal Mails, die für die Autoren schon längst tiefe Vergangenheit sind. In Mailinglists bin ich dann nicht "up to date". Aber ich kann nicht anders. Wenn meine Äußerung wirklich wichtig ist, wird sie auch noch ein, zwei Tage später wahrgenommen werden. Wenn nicht, dann eben nicht.

Noch bin ich erwerbslos, kann also neben meiner theoretischen Hauptarbeit am Tag auch die Mails noch irgendwie einschieben oder abends anhängen. Meist bringen sie mich ja auch in meinen eigenen Überlegungen weiter. Für nächstes Jahr muß ich aber meine Zeitplanung umstellen, im Zentrum muß die Konzentration auf die Dissertation stehen. Und richtig Geld verdienen muß ich dann auch wieder. Und andere Projekte mit Diskussionsrunden und so habe ich ja auch noch... die Familie vergesse ich bei dieser Aufzählung schon!

Schaut Euch dafür mal die Webseiten unserer Tochter an ...


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